Der ländliche Raum als globale Herausforderung
Globale Herausforderung
Landflucht ist ein Problem, das nicht nur Österreich betrifft. Auf der ganzen Welt sorgen stark voranschreitende Urbanisierungsprozesse dafür, dass immer mehr Menschen von der Region in die Großstädte ziehen. Die Ausstellung „Rural Moves – The Songyang Story“ im Architekturzentrum Wien zeigte, mit welchen Strategien sich die Pekinger Architektin Xu Tiantian dieser Herausforderung stellt.
Sie reichen von kleinmaßstäblichen architektonischen Interventionen bis hin zu Bürgerbeteiligungsmaßnahmen samt der Einbindung regionaler Handwerker. Mit gezielter Stärkung der regionalen Identität war es der Planerin möglich, positive Zukunftsperspektiven für die ökonomische, kulturelle und soziale Entwicklung der Region zu schaffen. Die Geschichte der Architektur von Songyang wurde in Form von Fotos, Filmen und Modellen erzählt.
Maßnahmen, die Früchte tragen
Die Ausstellung selbst präsentierte nicht nur ausgewählte Projekte von Xu Tiantian, sondern gewährte auch Einblick in die Geschichte der Region und deren Bevölkerung. Die Vergangenheit des Landkreises inspirierte schließlich auch die Planerin. Bei jedem ihrer Projekte berücksichtigte sie die Brauchtümer und die Tradition von Songyang. Nur auf diese Weise war es der Architektin möglich, sowohl identitätsstiftende Bauten als auch neue Produktions- und Arbeitsstätten zu errichten. So war Xu Tiantian unter anderem für die Realisierung einer Fabrik zur Zuckeraufbereitung, einem Gemeinschafts- und einem Bambuspavillon, einem Teehaus und einer Brücke über den Songyin-Fluss verantwortlich.
Derzeit deutet alles darauf hin, dass die Geschichte von Songyang eine positive Wendung nimmt. In einigen Dörfern siedelten sich bereits Vintageläden an. Auch stellen Kleinunternehmer die ersten Ferienhäuser für Touristen zur Verfügung. Die neue Autobahn in die Region wurde ebenfalls schon fertiggestellt, wobei in den nächsten Jahren auch ein Regionalflughafen – letztgenannte Großprojekte kommen in erster Linie dem Tourismus zugute – mehr Besucher in die Gegend bringen soll.
Akupunkturen in der Landschaft
Der Landkreis Songyang ist im Südosten der Provinz Zehjiang gelegen und setzt sich aus 400 Dörfern zusammen. Geprägt wird er von Bergen sowie dem Fluss Songyin. Aufgrund ihrer malerischen Landschaft und der langjährigen Tradition ist die Region auch heute noch für Touristen attraktiv. Doch nur die wenigsten Menschen bleiben auf Dauer in Songyang – wie viele rurale Gegenden Chinas ist die Region von Landflucht betroffen. Die drohende Abwanderung erweist sich nicht nur für die Dörfer, sondern auch für die denkmalgeschützte Landschaft als Risiko. Diese ist nämlich seit Jahrhunderten von der menschlichen Präsenz und Arbeit geprägt – ein dauerhafter Verlust wichtiger Traditionen hätte als Konsequenz eine weitere unaufhaltbare Landflucht. Der Versuch der Regierung Chinas, die Region durch Großprojekte zu beleben, scheiterte. Die Erschließung des Landkreises durch Schnellzüge und Straßenerneuerungen konnte der Abwanderung keinen Einhalt gebieten.
Die Lösung für das Abwanderungsproblem kam in Gestalt der Planerin Xu Tiantian. Die erste chinesische Architektin mit einem eigenen Büro machte es sich gemeinsam mit der kommunalen Regierung zur Aufgabe, die Region unter Einbeziehung der ortsansässigen Handwerker und Dorfgemeinschaften zu beleben. Dabei setzte sie mit ihren Projekten sogenannte „Akupunkturen“ in die Landschaft. Es handelt sich hier um kleinmaßstäbliche Baumaßnahmen, mit denen es letzten Endes möglich war, der ländlichen Gegend zu einem organischen und trotzdem dynamischen Wachstum zu verhelfen. Auch wurde durch diese Maßnahmen mittlerweile eine neue Generation moderner Landbewohner angelockt. Zu verdanken ist diese Entwicklung der sensiblen Herangehensweise der Architektin. Denn das Ziel von Xu Tiantian war es, das Bestehende nicht zu planieren, sondern in der Region bereichernde Verbindungspunkte zu schaffen. Hiermit war es möglich, Altes mit Zeitgemäßem zu verbinden und der Region zu einer neuen Identität zu verhelfen, ohne die Tradition zu zerstören.
Diese durchaus positive Entwicklung in Songyang zeigt auf, dass es nicht immer Projekte großen Ausmaßes sein müssen, die einen Wandel in der Region herbeiführen. Schon kleine Maßnahmen, die es schaffen, die Eigenschaften der Gegend einzufangen, und diese in einen modernen Kontext setzen, können das Problem der Landflucht lösen. Voraussetzung ist eine Auseinandersetzung mit der Region und ihren Bewohnern – auch Beteiligungsprozesse haben dabei einen hohen Stellenwert. Wichtig ist, beim Bauen die Bedürfnisse der Menschen zu berücksichtigen.
Von Songyang lernen
Viel zu lange wurde das Land als Ressource für die Stadt angesehen. Dabei wurde darauf vergessen, dass die Stadt ohne einen regionalen Bezug nicht diskutierbar ist – dies gilt vor allem in Hinblick auf die Architektur. Nur dann, wenn das Zusammenspiel von Stadt und Land berücksichtigt wird, ist es möglich, durchdachte planerische Übergänge zu schaffen. Experten sind sich daher einig, dass Landflucht eine Herausforderung ist, der sich vor allem die Architektur und Raumplanung stellen müssen. Immerhin handelt es sich hier um ein komplexes Phänomen, das nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Familien und ganze Dörfer und damit den bebauten Raum betrifft. Dies gilt ebenso für Österreich, das mit dem Problem der Landflucht seit den 1970er Jahren zu kämpfen hat. Mittlerweile sind hierzulande ganze Regionen vom Problem der Abwanderung betroffen. Insbesondere für die ortsansässige, oft ältere Bevölkerung ist diese Tendenz mit erheblichen Nachteilen verbunden. Nicht nur ist ein steigender Mangel an Nahversorgern zu verzeichnen – jede vierte Gemeinde in Österreich muss ohne Lebensmittelgeschäft auskommen – auch hinken ländliche Gegenden den Städten in Bezug auf Barrierefreiheit hinterher. Des Weiteren sind die Einfamilienhäuser in vielen Regionen für die heutigen Wohn- und Lebensverhältnisse zu groß und weisen daneben schlechte Energiewerte auf – aus Spargründen können dann lediglich ein oder zwei Räume beheizt werden.
Strukturelle Veränderungen dieser Größenordnung sehen in verschiedenen Ländern anders aus. Trotzdem gibt es in Bezug auf die Landflucht einige Gemeinsamkeiten, sodass sich auch für Staaten auf anderen Kontinenten die Möglichkeit ergibt, voneinander zu lernen. Eine Region, die es hierzulande geschafft hat, der ländlichen Abwanderung entgegenzuwirken, ist das Rheintal in Vorarlberg. In diesem Landkreis verschwimmen die Grenzen zwischen städtisch und ländlich zusehends. Die Verbindung mehrerer Gemeinden zu einer Region erwies sich als guter Lösungsansatz. Im Rheintal konnte durch gemeindeübergreifende Kooperation ein Landstrich mit Arbeitsplätzen, guter Verkehrsinfrastruktur und leistbaren Wohnungen geschaffen werden. Dies führte zu einer Belebung der Region, die im Vergleich zu den 1970er Jahren nun einen deutlichen Anstieg an Wohnbauten aufweist. Des Weiteren war es auf diese Weise möglich, eine regionale Marke und Identität zu schaffen.
Auch zeigt die Geschichte von Songyang, dass es nicht ausreicht, Dörfer durch neue Eisenbahnstrecken und Autobahnen zu erschließen. Damit eine Region floriert, gilt es, unter Mitarbeit der Bevölkerung bestehende Ressourcen in den Gemeinden wiederherzustellen und diese zu integrieren. Nur so gelingt es, resiliente und (energie)autarke Dörfer aufzubauen, die sich unabhängig zu den umliegenden Großstädten eine Identität aufbauen.
Text:©Dolores Stuttner Fotos: Wang Ziling
Kategorie: Architekturszene