Ländliche Leerstände

16. Mai 2011 Mehr

Ländliche Leerstände

Während weltweit die Städte im Wachsen begriffen sind, haben ländliche Regionen mehr und mehr mit Leerständen zu kämpfen. Durch den Strukturwandel der Landwirtschaft verlieren (ursprünglich) landwirtschaftlich genutzte Gebäude zunehmend an Funktion. Die Zahl der brachliegenden Ställe, Stadel und Scheunen wird allein in den Voralpen auf einige Zehntausend geschätzt.

Während dem Leerstand der traditionsreichen Bautypen wechselweise mit Umnutzung, Abriss oder Verwahrlosung gekontert wird, entstehen aufgrund moderner Bewirtschaftungstechniken, wachsender Betriebsgrößen und veränderter Organisationsformen moderne Wirtschaftsgebäude.

Dadurch erfahren Orts-, Siedlungs- und Landschaftsbilder eine starke Veränderung. Die Ausstellung „Der nicht mehr gebrauchte Stall“, bei der es sich um ein länderübergreifendes Gemeinschaftsprojekt des Gelben Haus Flims, dem Vorarlberger Architektur Institut (vai), Kunst Meran|Merano Arte, La Tuor Samedan, dem Bündner Heimatschutz sowie der Zeitschrift Hochparterre handelt, setzt sich intensiv mit diesem Thema auseinander.
Bereits vom 3. Juli bis 17. Oktober 2010 im Gelben Haus Flims zu sehen, macht die von Susanne Waiz aus Bozen und Hans-Peter Meier aus Zürich kuratierte Wanderausstellung derzeit, gerade im Vorarlberger Architektur Institut halt, wo sie noch bis 7. Mai zu sehen war.
Die breit gefächerte Ausstellung, zu der im vergangenen Jahr auch eine Sonderausgabe der Zeitschrift Hochparterre erschien, erkundet die Architektur und Soziologie des Stalls in Graubünden, Südtirol und Vorarlberg. Sie zeigt, mit welcher Vielfalt an Um- und Neunutzungen die drei topografisch ähnlichen, kulturell und historisch aber unterschiedlichen Regionen mit ihren Stallbrachen umgehen.

Dem Kurator Hans-Peter Meier zufolge lässt sich die Soziologie des Stalls in drei Epochen unterteilen. Bezugnehmend auf den Schweizer Volkskundler und Ethnografen Richard Weiss, der seine Beobachtungen anhand der funktionalen Theorie erläutert, entstehen Ställe laut Meier aus der Kette der Nahrungsbeschaffung aus Sammeln, Jagen, Hüten und Ackern. „Tätigkeiten treiben Menschen an, sich ihr Dach und ihre Gehäuse zu bauen.“
In der ersten Epoche, der „Stallzeit“, die nach Meier bis 1950 dauerte, entstanden die Ställe an den Stellen dieser Tätigkeiten und an den Wegen zwischen ihnen, wo sie an manchen Orten noch bis heute stehen. Da Ställe Ausdruck der Lebensweise eines Ortes, einer Zeit, Kultur und Gruppe sind, haben sie eine über ihre Zweckmäßigkeit hinaus reichende Lebensdauer und Bedeutung. „Ställe gehören zum Erbe der Gemeinschaft, sie sind Träger des kollektiven Gedächtnisses.“
In der zweiten Phase, die Meier mit „Stallmoderne“ bezeichnet, wird der Stall im Zuge der Rationalisierung und Motorisierung der Landwirtschaft vom Normstall verdrängt. Geboren aus Datenreihen von Ingenieuren und Ökonomen folgt diese den Prinzipien rationeller Produktion, anstatt den alten Wegen, weshalb er Fremder bleibt, egal ob vor, über oder im Dorf. Eine weitere Transformation erfährt die Stalllandschaft seit den 1960er-Jahren durch eine ganz neue Weidewirtschaft, den Tourismus. Der ländliche Bereich wird zum Auslauf für den Freizeitmenschen, dessen Hirten die Skilehrer und Hoteliers sind. „Im Berggebiet erzwingen existenzielle Gründe Anpassungen an die Tourismusentwicklung.“ Die Nachfrage aus den Zentren nach Stallromantik lässt eine Nostalgie nach der „Stallzeit“ aufkommen. So wird aus dem Stall schon mal ein Bankettsaal, aus der Scheune neben dem Skilift ein Kiosk und aus dem Schuppen an der Loipe eine Wachsstube. Zuweilen wird der Stall zum Atelier oder zum Museum, oder er wird zum reinen Zweck des „Schön seins“ in alter Manier renoviert und sich selbst überlassen. Gleichzeitig wird er als Gehäuse für neue Lebensstile entdeckt, in dem Menschen die Tiere ersetzen, welche in die Normställe ausgesiedelt wurden. Mit diesen jüngsten Transformationen ist für den Stall die Zeit der Stallutopien angebrochen.

Für die Zukunft kann sich Hans-Peter Meier vier Szenarien vorstellen, zum einen die Stalllandschaft als „Metro-Alpinraum“, der sich infolge des um sich Greifens der Zentren als Zwilling des Metropolitanraum entwickelt. Dieser zeichnet sich durch maximale Erschließung, eintönigen Siedlungsbrei und hocheffiziente Infrastrukturen und Dienstleistungen für Freizeit und Tourismus aus. Der Stall überlebt als grell geschminkte Prostituierte in Form von ausgewählten Exemplaren, die als Hülle für Fun, Gastronomie und Lifestyle dienen.
Als zweites Szenario hält der Kurator eine Entwicklung der ländlichen Regionen zu „alpinen Parks“ für möglich, die als Erholungs-, Freizeit- und Rückzugsräume ein Gegenstück der Metropolen darstellen. Die ehemaligen Agrarbauten werden zu Nostalgieträgern als einfache „Besenbeiz“ am Wegrand, als Hütten für Ferien oder als Museum.
Weitaus optimistischer ist seine Vision einer „alpinen Existenz“, in der der Stall seine Funktion als ortsgebundene Produktionsstätte im Dienste einer Biolandwirtschaft aufrechterhalten kann. Er zeigt, dass sich seine Existenz mit Heimat, im Sinne von Wahrung der Tradition verbinden lässt.
Als letztes schließt Meier aber auch ein endgültiges Übergehen zurück zur Natur der nicht mehr gebrauchten Ställe nicht aus. Es wäre dies das Szenario des „alpinen Sterberaums“, in dem der Stall das Memento mori eines traditionsreichen Bautyps darstellt.

Stationen der Ausstellung:

Fundaziun La Tuor, Samedan: 1. Juni bis 25. September 2011
www.latuor.ch

Kunst Meran | Merano Arte, Meran: 7. Oktober 2011 bis 8. Jänner 2012
www.kunstmeranoarte.com

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Kategorie: Architekturszene