Das Einfrieren von Geschwindigkeit

10. Januar 2020 Mehr

Wie eine riesige Spinne spreizt sich der sogenannte „Agent Crystalline“ vor dem Northwest Campus Gebäude des Edmonton Police Center in Edmonton, Kanada zwischen Himmel und Erde. Vektoren, Tangenten und ein Netzwerk von Bögen formen hier den Eingang zum Campus. Auf exakt drei Punkten mit dem Boden verbunden, somit gefühlsmäßig äußerst stabil, scheint die Skulptur von Marc Fornes, dem Chefarchitekten des Studio THEVERYMANY aus New York (sie wurde im Oktober 2019 errichtet), trotzdem auf den Startschuss zu warten, um in ­irgendeine Richtung loszusprinten.

 

Agent Crystalline vor dem Northwest Campus Gebäude des Edmonton Police Center in Edmonton, Kanada

 

Agent Crystalline betont – in Verbindung mit dem Standort vor dem Police Service Center der Stadt – deren Aufgabe für Wachsamkeit und Sicherheit durch seine grafischen Assoziationen. Die Arbeit weist ausdrücklich in ihren Zusammenhang mit dem (Auto)Verkehr, in ihrer physischen und psychischen Wirkung auf alle Bereiche der Vorsicht und Wahrnehmung hin – das sind schließlich lebenserhaltende Eigenschaften beim Autofahren. Ihre dynamische Ausformung zielt auf die Balance zwischen einem, nach Sicherheit verlangendem Orange und einem sanften Mandarin hin. Sie steht sowohl für Schutz als auch Aktivität, genauso aber für das Gefühl einer gewissen Zeitlosigkeit.

Und um die Unberechenbarkeit der Skulptur zu verstärken, ist ihre Verkleidung von den Rennstreifen des Motorradsportes, von Rennbooten und Rennautos inspiriert. Orangetöne sind auf den Aluminiumstreifen, welche die Form bilden, dermaßen verteilt, dass die Bündelung und die Richtung der einzelnen Teile der Struktur betont werden und sich aber auch ein gleichmäßiger Verlauf in alle Richtungen ergibt. Die Farbpalette beinhaltet sechs verschiedene Töne und einen fahlen, rosafarbenen Untergrund. Das menschliche Auge ist so mit dem Lesen der Richtungen und den Farbkontrasten beschäftigt, dass sich diese Unruhe auf das Ruhende der Skulptur überträgt.

 

 

Das Sonnenlicht duelliert sich mit den Farbabstufungen zweier, der insgesamt 1.785 Streifen, einer ultradünnen Aluminiumhaut. Diese sichtbaren, pulsierenden Momente signalisieren eine Interaktion schon von Weitem und rufen danach, sich die kleinen Details näher anzuschauen.

Mehr als je zuvor in seinen Projekten beschreibt hier das bewährte Streifensystem von Fornes die Kurvatur, die Kubatur, die Krümmungen und Bewegungen. Konturen bildende Segmente, die sich aus der Parallelität der Streifen ergeben, umkreisen und tauchen in das Epizentrum der Form ein. Sie definieren Öffnungen und ein Rückgrat, die Streifen wickeln sich diagonal um die drei Standbeine hinab bis zu den schlanken Berührungspunkten mit der Erdoberfläche. Ein viertes „Bein“ ragt in den Himmel mit einer leichten Neigung zum Haupteingang des Campus hin.

 

Wichtig für die starke Wirkung der Skulptur ist auch, dass die Bewegung und die Geschwindigkeit auch in den Drehungen der Streifenelemente in den einzelnen Gliedern eingefangen sind. Tanzend und doch sehr bestimmt nimmt Agent Crystalline so eine souveräne Haltung am Eingang der Repräsentanz der Stadtautorität ein. Die Form nimmt die kinetische Energie der Bewegung der auf den Schnellstraßen Vorbeifahrenden auf, friert sie ein und verkörpert sie visuell. Und die Autorität der Behörde wird – wie bei einer Radarfalle durch das Foto – hier durch das Aufsteigen der Bewegung, eingefroren in der Zeit, demonstriert.

In der Ästhetik der Figur sind verschiedenste Zeitspannen und Kunstrichtungen implementiert: Das reicht von den fetzigen 70er Jahren bis zum Minimalismus, von Tatlin bis zu Arp oder Calder. Alles ist zu dieser ikonischen Landmark in einem Vorort der Stadt verschmolzen. Diese Kombination von Stilen schafft eine Umgebung mit einer Vielzahl von kontextuellen Referenzen. Beobachter können eine Verkehrsspinne, einen cremefarbenen Porsche oder einen Strudel von Illustrationen der 70er Jahre erkennen und darüber diskutieren.

 

Text:Peter Reischer
Fotos: NAARO

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Kategorie: Kolumnen, Start