Den ländlichen Raum im menschlichen Maßstab denken
Seit 2008 arbeiten Sonja Hohengasser und Jürgen Wirnsberger zusammen, 2017 folgt die Gründung der Hohengasser Wirnsberger ZT GmbH. In Spittal an der Drau angesiedelt widmen sie sich regionalen Projekten im ländlichen Kontext. An der FH Kärnten, der österreichweit einzigen Hochschule mit Architekturausbildung im ländlichen Raum, geben Sonja Hohengasser als Professorin und Jürgen Wirnsberger als Lehrender ihre Erfahrungen und Wissen zum Thema Rurales Bauen an die Studierenden weiter.
Was macht eine Stadt aus?
Sonja Hohengasser (SH): Was meine persönlichen Erfahrungen während der Studienzeit in Wien betrifft, bedeutet Stadt für mich einerseits Freiheit, Anonymität, ein großes kulturelles und kulinarisches Angebot anderseits aber auch Reizüberflutung durch gestresste Menschen, enormen Autoverkehr, schrille Beleuchtungen – einfach ein Überangebot von Allem. Ich habe sie sowohl kreativitätsfördernd als auch als Energieräuber erlebt. Man muss sich mehr mit den Dingen auseinandersetzen und herausfinden, was wirklich wichtig ist und was nicht.
Jürgen Wirnsberger (JW): Um über die Qualtäten einer Stadt sprechen zu können, muss man aus meiner Sicht zuerst deren Größenordnung definieren. Eine Kleinstadt im ländlichen Kontext kann andere Qualitäten bieten als eine Großstadt. Für mich ist die Großstadt immer inspirierend, weil das Angebot vielfältig ist. Ich habe aber nie, wie Sonja, lange in einer größeren Stadt gelebt.
Was sind die Grenzen zwischen dem ländlichen und dem städtischen Raum?
SH: Schwierig zu sagen. In Wien habe ich die Stadtgrenze dort erlebt, wo auch die Straßenbahn geendet hat. Wenn man mit dem Auto unterwegs ist, ist das wieder anders – die Grenzen verschwimmen mehr. Die Distanz ist viel kürzer und man fährt auch aus der Stadt raus in die Natur, um Sport zu betreiben.
JW: Ich glaube, dass es die definierte Grenze nicht mehr gibt. Früher gab es Stadtmauern oder andere Befestigungsanlagen, durch die ganz klar war, bis wohin die Stadt reicht und wo die Landschaft beginnt. Heute ist, durch den Umraum der Stadt, die Festlegung einer Grenze viel schwieriger geworden, wenn nicht unmöglich.
Für den Käsehof Zankl gestalteten Hohengasser Wirnsberger Architekten eine Hofkäserei im landwirtschaftlichen Kontext.
Braucht eine Stadt dörfliche Strukturen?
SH: Ja, ich finde schon. Wenn man länger in einem Stadtbezirk wohnt, wird er zum Dorf. Man findet seine Stammläden und seine Stammlokale, die meist fußläufig erreichbar sind. Ich habe Stadt erlebt, als mehrere kleinere dörfliche Strukturen, die aneinandergereiht sind.
JW: Ich denke, dass es in der Stadt oft sogar besser funktionieren kann als großteils am Land. Dort gibt es die dörflichen Strukturen oft gar nicht mehr oder sie sind am Verschwinden. In vielen Dörfern gibt es seit Jahren ein Sterben der Wirtshäuser – was sich natürlich negativ für das gesellschaftliche Zusammenleben auswirkt.
Kann man nicht nur von „Landflucht“ sprechen, sondern auch schon von „Stadtflucht“?
SH: Das kann ich nicht sagen, aber was zu beobachten ist, ist dass fast alle meine Freunde und Bekannte aus Wien einen Zweitwohnsitz am Land oder außerhalb der Stadt haben. Sobald eine Familie gegründet wird, verstärkt sich der Wunsch nach Leben in oder mit der Natur dann noch mehr. Auch die Corona-Krise hat den Wunsch sicherlich noch verstärkt, denn alle, die einen Garten haben, konnten sich glücklich schätzen. Ich sehe die Stadt als Erhalter, um Geld zu verdienen und sich weiterzubilden. Die Freizeit verbringen viele Leute dann am Land.
JW: Wenn man einen Zweitwohnsitz hat, ist das für mich noch keine Stadtflucht. Stadtflucht würde für mich bedeuten, dass man die Zelte in der Stadt tatsächlich abbricht und aufs Land zieht. Das kann ich in einem größeren Ausmaß nicht beobachten. Viele ziehen von der Stadt in die Speckgürtel, wo sie dann einen eigenen Garten haben. In Wirklichkeit gehört das aber noch immer zur Stadt, weil sie von der Stadt versorgt werden. Vielleicht sollte man diese Tendenz eher als eine Freizeit-Stadtflucht bezeichnen.
Wie kann der ländliche Raum als zukunftsfähige Lebensumgebung gefördert werden?
JW: Es muss ein Bewusstsein für die Qualitäten eines Miteinanders und von intakten Ortskernen gebildet werden. Um überlebensfähig zu bleiben braucht ein Ortszentrum, neben öffentlichen Funktionen, wie einen Kindergarten, vor allem auch bewohnte Häuser. Ein Dorf hält die Außenentwicklung auf Dauer nicht aus. Um Ortskerne zu erhalten und zu beleben, benötigt es viel strengere Widmungsvorschriften mit mehr Gemeinwohl- als Privatinteressen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist für mich der öffentliche Raum – diese wichtigen Orte für das gesellschaftliche Leben sind nicht nur ein Stadtthema, sondern gerade fürs Land wichtig und notwendig!
SH: Die Wahrnehmung der Enge spielt dabei auch mit. Am Land hält man die Enge oft nicht aus, vor allem, wenn zwei Autos nicht nebeneinander vorbeifahren können. Gerade die Enge bietet aber oft eine hohe Qualität. Es benötigt Bewusstseinsbildung und Schulung, damit der Mensch und nicht immer das Auto der Maßstab ist. Das ist ganz wesentlich, um die dörflichen Strukturen und deren Qualitäten zu erhalten.
Die Schaukäserei Kaslab‘n mit Hofladen entstand im Kärntner Ort Radenthein. Der Bereich vor dem Gebäude funktioniert als öffentlicher Vorplatz.
Können alternative Wohnkonzepte zum Einfamilienhaus am Land funktionieren?
SH: Mehrparteienhäuser gibt es schon, aber verdichtete Wohnformen wie Reihenhäuser oder Hofhäuser gibt es relativ wenig. Viele können sich nicht vorstellen so zu wohnen, weil sie es nicht kennen. In der Lehre versuchen wir die Studierenden mit solchen Typologien zu konfrontieren. Sie sind dann immer erstaunt, welche Qualitäten solche alternativen Wohnkonzepte haben können. Diesbezüglich muss noch viel Bildungs- und Vermittlungsarbeit geleistet werden. Gut wäre natürlich, wenn die Förderungen die Entwicklung alternativer Typologien mehr unterstützen würden.
JW: Ich finde, dass beim Wohnen gerade das genaue Gegenteil passiert. Das Land wird für die Stadt als Erholungsraum gesehen. In Kärnten, wie vermutlich in vielen touristischen Regionen Österreichs, wird viel gebaut, aber leider meist nur Zweitwohnsitze. Durch diese dann überwiegend leerstehenden Häuser, die wenige Male im Jahr genutzt werden, wird auch die touristische Infrastruktur zerstört. Als Nebeneffekt steigen die Grundstückspreise und das Wohnen wird für die Jungen am Land nicht mehr leistbar. Einige haben das Glück, entweder das Haus von den Eltern weiterbauen zu können oder einen Baugrund zu erben. Wirklich verdichtete oder alternative Wohnkonzepte am Land gibt es wenige, aber vielleicht entsteht gerade auf Grund der hohen Kosten für Wohnraum in Zukunft vermehrt Innovatives.
Sind alternative Wohnkonzepte in der Stadt einfacher umzusetzen?
JW: Ja, ich denke schon. Die Offenheit für zukunftsfähige Konzepte sehe ich eher in der Stadt, da die Menschen dort auch verschiedenste Wohnmodelle und Milieus kennen lernen. Ich hoffe aber, dass auch im ländlichen Raum neue Wohnkonzepte probiert werden, die eine Alternative bieten zum alleinstehenden Haus mit Abstandsgrün.
SH: Vielleicht wird es am Land zukünftig mehr Wohngemeinschaften oder Alterswohngemeinschaften geben. Die bestehenden Häuser werden den Bewohner*innen ja zu groß. Man braucht solche Konzepte, die dann vielleicht über ein Dorfservice betreut werden. In der Stadt sind sie aber sicherlich einfacher umzusetzen, denn dafür am Land Nutzer zu finden ist nicht so leicht. Vielleicht sind das dann eher Leute, die einmal in der Stadt gelebt haben und wieder aufs Land zurückkommen.
Die bäuerliche Stube wird bei der Kaslab‘n als öffentlicher Ort neu interpretiert.
Sehen Sie Ihre Tätigkeit als Lehrende oder als Bauende unterstützender für den ländlichen Raum an?
JW: Ich glaube es wäre schwierig in der Lehre authentisch zu sein, ohne in diesem Bereich auch zu bauen. Am Land ist Authentizität aus meiner Erfahrung wesentlich, um die Leute zu erreichen. Ich habe das Gefühl, dass das dann bei den Studierenden auch so ankommt.
SH: Bei uns hängt beides stark zusammen. Viele Gemeindevertreter*innen kommen mit ihren Problemstellungen zu uns. Diese werden dann auch von den Studierenden als Studienprojekte oder Diplomarbeiten behandelt.
Worin soll das Land unbegrenzt sein?
SH: Generell sollte das Land auch eine bauliche Struktur haben, damit die Qualität erhalten bleibt. Daher sollte die Bebauung begrenzt sein. Es muss strenge Widmungen und Abgrenzungen der unterschiedlichen Nutzungen geben, damit es wirkliche Zentren und auch wieder Freiflächen gibt. Die Architektur darf nicht an der Gebäudegrenze enden, sondern auch die Zwischenräume müssen gestaltet werden. Nicht begrenzt sein soll das Land beruflich, denn man kann manche Berufe nicht ausüben, wenn man hier wohnen möchte. Mit der Digitalisierung ist dann auch am Land viel mehr machbar.
JW: Unbegrenzt an Möglichkeiten und Visionen!
Fotos: Christian Brandstätter
Kategorie: Architekten im Gespräch, Kolumnen