Denkmalpflege der Nachkriegsarchitektur
Sind die Bauwerke der 1960er- und 1970er-Jahre bereits als Kulturmerkmale anzusehen? Bei dieser Frage sind sich Architekten heute nicht mehr einig. Immerhin kennzeichnet etliche Gebäude aus dieser Zeit eine nüchterne und damit nahezu eine fantasielose Gestaltung.
Universitätsbibliothek Bonn © Eckhard Henkel
Begründet liegt dieser Aspekt in der vergleichsweise kurzen Bauzeit. Denn um dem erhöhten Bedarf nach Wohnraum in Großstädten nach dem Zweiten Weltkrieg gerecht zu werden, musste vor allem die Errichtung von Wohnobjekten zügig erfolgen. In diese Zeit schlug auch die Geburtsstunde des Plattenbaus – in den 1960er-Jahren galt dieser noch als Experimentalbau. Heute sind mit diesen Großwohnsiedlungen am Stadtrand eher negative Assoziationen verbunden. Doch ist die Nachkriegsmoderne nicht nur mit dem Massenwohnungsbau gleichzusetzen – diese Zeit brachte durchaus bahnbrechende und für die Architekturgeschichte wichtige Projekte zutage.
Wohn-Hochhaus Eisenstadt © bwag
Schützenswerte Gebäude oder fantasielose Nutzobjekte?
Damit es möglich ist, die Architektur der Nachkriegszeit zu bewerten, gilt zu erörtern, welche Eigenschaften ein Gebäude oder gar ein ganzes Wohngebiet erst erhaltenswert machen. Während bei älteren Bauwerken der lange Zeitraum eines Jahrhunderts zum natürlichen Selektionsprozess beiträgt, gestaltet sich die Auswahl bei vergleichsweise jungen Objekten etwas schwieriger. (Historische) Qualität ist hier auf den ersten Blick nicht – oder noch nicht – zu erkennen. Es ist in diesem Fall mitunter notwendig, andere Bewertungskriterien heranzuziehen.
Von kultureller Bedeutung könnten insbesondere Bauten sein, die technisch, gestalterisch und funktionell einzigartig sind. Das Bestreben der Denkmalpflege sollte hier nicht nur der Schutz der Gebäude, sondern gleichermaßen der Erhalt von deren Nutzung sein.
In einigen Städten Deutschlands und Österreichs ist die sogenannte Nachkriegsbebauung sogar identitätsstiftend. Viele solcher Orte – darunter Dortmund, Bonn, Wien, aber auch Kleinstädte wie Eisenstadt – stehen aktuell vor einer großen Sanierungs- und Umbauphase. Da viele Bauten der 1950er-Jahre dort schon verloren gegangen sind, stellt sich die Frage, in welcher Form die Nachkriegsarchitektur der darauffolgenden Jahrzehnte zu erhalten ist.
EKAZENT Hietzing © EKAZENT Hietzing
Die Nachkriegsmoderne als Architektur der Gegensätze
Es lässt sich selbstverständlich nicht leugnen, dass die Architektur der 1960er- und 1970er-Jahre noch immer im Zeichen der Wohnungsnot stand. Damit schlug die Geburtsstunde der bisweilen monotonen und anonymen Großwohnsiedlungen am Stadtrand. Beim Wiederaufbau der Innenstädte war es das Bestreben der Planer, Urbanität durch Dichte zu erzielen. So gesellten sich im Laufe dieser Jahrzehnte häufig gewaltige Bauvolumen ins Stadtbild. Unter anderem dienten dabei weitläufige Einkaufszentren als beliebte Stätten des Zusammentreffens.
Geprägt waren die Urheber der Bauwerke von einer Zeit gesellschaftlicher und politischer Gegensätze. Einerseits brachten die Jahrzehnte des technischen Fortschritts bisweilen futuristische Objekte hervor, während sich die Spaltung Europas durch den Eisernen Vorhang in Form rauer Materialästhetik äußerte. In der Architektur war es das Bestreben der Planer, mit Materialien wie dem Sichtbeton und den körnigen Oberflächen eine neue Sinnlichkeit zu kreieren. Doch heute gelten viele der damals innovativen und bisweilen experimentellen Bauten als unansehnlich.
Es lohnt sich aber durchaus, einen zweiten Blick auf die Bauplanung ab den 1960er-Jahren zu werfen. Denn es gibt sie: Gebäude, die immer noch ein Musterbeispiel in puncto Design und Funktionalität sind.
In diesem Kontext ist vor allem das Bibliotheksgebäude der Universität Bonn zu erwähnen. Dessen kubischer Baukörper wurde von den Architekten Fritz Bornemann und Pierre auf einer weiten Rasenfläche realisiert. Vor dem Erdgeschoss fungieren Rundpfeiler aus Sichtbeton als Träger des vorstehenden Obergeschosses. Sie lockern den Bau – gemeinsam mit einem Fensterband – auf und verleihen ihm Transparenz und Leichtigkeit. Im Inneren besticht der Kubus mit schlichter Eleganz: farbenfrohe Wandverkleidungen, ein Atrium und verglaste Bereiche empfangen die Besucher und gewährleisten Komfort.
Funktionalismus als Dominante
Geht es um die Baukunst der 1960er- und 1970er-Jahre, so steht bei ihr oftmals der Funktionalismus im Vordergrund. Begründet wurde die pragmatische Herangehensweise an die Architektur vom Bauhaus-Stil der Vorkriegszeit – einfache, symmetrische Formen prägten bereits in den 1930er-Jahren die Bauplanung. Kunstvolle Designs wichen schließlich auch im Laufe der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg funktionellen Aspekten. So machte die Architektur ab 1960 einen gewaltigen Schritt in Richtung Wohnkomfort – der Grundgedanke war, jede Wohnung mit einem Balkon auszustatten. Dies galt auch für den sozialen Wohnbau, wo dieses Konzept fast flächendeckend umgesetzt wurde. Während die Wohnqualität in den nächsten Jahrzehnten eine positive Wende einschlug, hinkte der Städtebau in puncto Ästhetik noch ein wenig hinterher.
Ein typisches Beispiel dafür ist das Eisenstädter Wohn-Hochhaus, dessen Geburtsstunde in den 1970er-Jahren liegt. Geplant wurde das 51 Meter hohe Gebäude mit seinen 17 Stockwerken von der Architektin Martha Bolldorf. Der graue Solitär mit seinen kleinen, symmetrisch angeordneten Fenstern beherbergt heute 71 Eigentumswohnungen, wobei 118 Menschen in ihm leben. In einem locker bebauten Stadtteil aus vier- bis siebengeschossigen Häusern stellt das Hochhaus eine visuelle Dominante dar – gern gesehen, war diese aber nicht immer. Ursprünglich stieß das Konzept auf Kritik durch Experten, aber auch die Bevölkerung der Hauptstadt Burgenlands begeisterte der nüchterne Bau nicht. Allerdings waren die damals doch modernen Wohnungen bald sehr begehrt. Nach Sanierungen überzeugt das Gebäude heute noch immer mit solider Wohnqualität. Diese Entwicklung zeigt, dass die Nachkriegsarchitektur in Bezug auf Wohnkomfort zukunftsweisende Herangehensweisen einläutete und damit einen wichtigen Grundstein für die kommenden Jahrzehnte legte.
Es ist zahlreichen Städten aber (noch) nicht klar, wie mit der Architektur der Postmoderne zu verfahren ist. Doch handelt es sich hier um eine Herausforderung, der sich Planer und Gemeinden schon bald stellen müssen. Denn etliche Bauten aus der Zeit von 1945 bis 1979 kommen bereits in die Jahre – es ist also zu entscheiden, ob ein solches Gebäude abgerissen, umgenutzt oder saniert werden soll. In den meisten Ländern mangelt es für Architektur aus dieser Periode aber an geeigneten Bewertungsverfahren.
Neue Bewertungsmethoden bestimmen die Erhaltungswürdigkeit
Erste Lösungsansätze gibt es bereits: Experten aus Brünn und Wien nahmen sich dieses Problems an und entwickelten eine entsprechende Bewertungsmethode. Zur Anwendung soll sie im Anlassfall kommen – also wenn die Frage nach einer Sanierung oder Umnutzung im Raum steht. Das Kernstück des Verfahrens ist die Wert- und Profilanalyse. So erfolgt die Bewertung unter anderem aufgrund des kulturgeschichtlichen Kontextes, der gestalterischen Qualität und der Funktionalität mitsamt der räumlichen Anpassungsfähigkeit des Bauwerks. Eine Gesamtnote wird nicht vergeben – vielmehr stehen die einzelnen Punkte für sich. Experten können erhaltenswürdige Bauten dadurch leichter erkennen und diese einer passenden Nutzung zuführen.
Einer solchen Bewertung unterzog die Stadt Wien unter anderem das EKAZENT Hietzing. Realisiert wurde dieses zwischen 1961 und 1964 als erstes Einkaufszentrum Österreichs. Kennzeichnend für die Einkaufszeile ist ein Mosaik, das die Wand in Richtung der stark frequentierten Hietzinger Hauptstraße vollflächig bedeckt. Die Anlage selbst setzt sich aus einem Ensemble aus vier einzelnen Bauten zusammen. Von den Nachbargebäuden grenzt sich das EKAZENT durch die leicht zurückversetzte Planung gut ab, während es sich gleichzeitig in die kleinteilige Struktur der Umgebung integriert. Der sensible Entwurf der Architekten Wolfgang und Traude Windbrechtiger hat für die Stadt Wien historische Relevanz, ist künstlerisch wertvoll und damit erhaltenswert.
Der Pavillon Z der Architekten Zdenìk Denk, Zdenìk Pospíšil, Milan Steinhauser und Zdenìk Alexa in der tschechischen Großstadt Brünn ist ein weiteres Positivbeispiel der Nachkriegszeit – dies bestätigte auch die Bewertung durch die Expertenkommission. Planung und Bau des Gebäudes erfolgten zwischen 1958 und 1959, wobei das Brünner Messegelände als Standort gewählt wurde. Nach seiner Fertigstellung war das Bauwerk die größte Ausstellungshalle in der damaligen Tschechoslowakei. Formgebend ist ein Ring aus gegossenem Stahlbeton, der eine Höhe von 19 Metern, bei einem Außendurchmesser von 122 Metern, aufweist. Zentral liegt eine selbsttragende Kuppelkonstruktion, die Stahlbetonsäulen stützen. Der Innenraum ist weitläufig, wobei die Architektur ihn nicht einschränkt. Diese Ausstellungsfläche weist einen Durchmesser von 90 Metern auf, während die Gesamtnutzfläche des Pavillons mehr als 24.000 m2 beträgt. Auch heute noch fungiert der Pavillon Z als Wahrzeichen des Brünner Messegeländes.
Nachkriegsarchitektur ist in vielen Städten und Stadtteilen eine wichtige Dominante. Die Frage nach dem Umgang mit solchen Bauten ist damit aktueller denn je. Mit angepassten Bewertungsmethoden ist es mittlerweile möglich, abbruchreife Bausünden von identitätsstiftenden, geschichtsträchtigen Projekten zu unterscheiden.
Text: Dolores Stuttner
Kategorie: Architekturszene, Kolumnen