Der Kunde soll spüren, dass ich ihm meine Zeit widme

7. November 2018 Mehr

Mit einem der wenigen Architekten, die noch Entwürfe mit Bleistift und Buntstift anlegen, sprach architektur über Zeit, Städtebau, große und kleine Aufgaben und die Hingabe zum Beruf.

 

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Architekt mag. arch. Florian Ketter, Foto:©Ketter

 

Herr Architekt Ketter, was bedeutet Zeit für Sie beim Entwurfsprozess?

Der Vorgang des Entwurfs ist in meinem Fall – im Hinblick auf die Zeit – sehr kurz. Wenn ich eine Aufgabe bearbeite, habe ich die strukturelle Lösung, also, ob der Ort eine große oder kleine, eine offene oder geschlossene Architektur verlangt, in kürzester Zeit vor Augen. Nicht als Vision, sondern als Reaktion darauf, was dieser Ort, diese Landschaft, diese Baulücke, diese Stadt will.

Also ein sehr kontextbezogenes Denken und Aufnehmen der Realität?

Absolut, ich möchte ein Beispiel nennen: Als ich zum ersten Mal vor Jahren im Zuge eines Auftrages in Kiew war, ohne irgendeine tiefere Ahnung von der Stadt zu haben, hat man mich zum Bauplatz für „Das große Tor“ geführt. Als Fremder sieht man natürlich eine Stadt mit ganz anderen Augen als ein Einwohner. Man hat kaum ein Wissen über alltägliche Zusammenhänge der Stadt, was wie funktioniert etc. Dieses „Unwissen“ kann jedoch ein Vorteil sein, denn ich habe in Kiew eine riesige Kluft zwischen dem Bahnhof und der eigentlichen Stadt empfunden, an die sich die Bewohner aber offenbar gewöhnt hatten. Konkret verbindet hier eine einzige vierspurige Autostraße – die man als Fußgänger kaum überqueren kann – den Bahnhof mit der Stadt. Dann gibt es, wie am Karls­platz in Wien, einen verschütteten Fluss und einen großen Niveauunterschied zwischen Bahnhof und Stadt. Einzige Verbindung war damals eine Rolltreppe, die ständig kaputt war, mit einer seitlich gelegenen behelfsmäßigen Holztreppe. Hier haben sich hunderttausende Menschen täglich hinauf und hinunter gewälzt. Diese Stiege hatte sich zu einer Art Marktplatz oder Basar entwickelt.
Bei diesem Anblick entstand in mir der Wunsch: „Wäre doch hier vor dem Bahnhof eine große fliegende Ebene, die in mehreren Stufen in die Stadt hinunterfließt!“ Das hat sich nachträglich als absolut richtig herausgestellt, denn die Universitätsprofessoren und Politiker der Stadt hatten schon in den letzten Jahren ähnliche Ideen (Brücken, Stege) entwickelt gehabt.

Glauben Sie also, dass Städtebau und Architektur ohne eine kulturelle Einordnung und Sensibilität eine übergeordnete Richtigkeit haben kann?

Ja, das glaube ich!

 

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Das Musée Fernand Legér in Biot, Alpes-Maritimes als Beispiel für eine Architektur, die aus den Materialien der Umgebung errichtet wurde. Foto:©Ketter

 

Soll der Architekt die Zeit, den Prozess seiner Arbeit sichtbar machen, sie dokumentieren?

Diese Prozess-Zeit ist unglaublich wichtig. Es ist wie nach einer Operation. Der Arzt greift ein, operiert, pflanzt zum Beispiel eine neue Herzklappe ein – das ist der „grobe“ Vorgang. Wenn man es jetzt nicht schafft, dass der neue Teil vom Körper angenommen wird, dass er einwachsen kann, also wenn die Rehabilitationsphase nicht gut- und wohldurchdacht ist, kann das beste Konzept scheitern. Für das „Gelingen“ ist es nicht vorteilhaft oder wichtig, das zu dokumentieren. Wichtig ist es für andere Fachleute und Interessierte, für Politiker, Städteplaner und Kollegen diesen Prozess sichtbar zu machen und das „Geheimnis“ zu lüften. Ich finde es nicht sinnvoll, seinen Schöpfungsakt im Verborgenen zu halten.

Lernt der Mensch etwas aus der Geschichte im Bezug auf Architektur?

Ja, ich denke schon. Man kann ja nicht behaupten, dass die ganze Architekturgeschichte in Bezug auf unser heutiges Tun wirkungslos ist. Aus den sozialen Aspekten der Architektur lernt der Mensch allerdings gar nichts. Das ist das Dramatische und das Traurige!

Aus welchen Aspekten lernt er dann?

Aus der technischen Entwicklung, aus dem Scheitern gewisser Größenordnungen. Sicher auch in funktionaler Hinsicht, wie man z. B. größere Siedlungs- oder Ballungsräume organisiert.
Die wesentlichen Dinge in der Kunst sind jene, die man nicht sieht und die sehr schwer zu verbalisieren sind. Und um die drücken sich alle Städtebauer herum, denn das ist schwierig: Wie schafft man einen lebendigen Raum? Wir können ja nichts Lebendiges kreieren, wir sind ja nicht die Natur. Wir versuchen sie zu imitieren, sie wissenschaftlich zu durchschauen, sie mit einem Café, einer Baumallee lebendig zu machen. Vielleicht ist es aber gar nicht möglich, vielleicht ist es nur Simulation.

Und jetzt kommen wir wieder zur Zeit zurück: Was wir im Städtebau versuchen ist, dass wir innerhalb von ein paar Jahren eine Seestadt auf die Wiese stellen. Weil wir uns nicht die Zeit nehmen, oder sie uns geben, dass die Seestadt sich so entwickelt, wie sie sich von alleine mit der Zeit entwickeln würde. Wir versuchen das innerhalb eines theoretischen Projektzeitplans am Reißbrett hinzukriegen. Dabei übersehen wir immer, dass wir die Zeit nicht komprimieren können.

 

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Zentrum Bad Schallerbach, Foto:© Sabine Herzog

 

Gibt es für Sie ein (Vor)Bild, wie die ideale Stadt, die ideale Architektur aussehen könnte?

Eine Vorstellung diesbezüglich habe ich schon. Ich war gerade in Südfrankreich. Diese Städte sind teils sehr alt – keltisch, maurisch, griechisch oder römisch, sind zerstört worden, aufgegeben und wieder aufgebaut worden. Allen ist aber ein menschliches Maß gemeinsam. Sie haben Höhepunkte, wie Türme, Kastelle, Kirchen und natürliche Felsvorsprünge mit Architektur oben darauf. Das alles spielt eine große Rolle für das „Wohlfühlen“ in der Architektur. Man fühlt sich dort nicht in eine Schachtel eingeordnet mit einem Größenmaß, das nicht das unsere ist. Die verwendeten Materialien stammen hauptsächlich aus der Umgebung. Das ist jedoch nicht romantisch gemeint, es gibt hochmoderne Bauten, die aus dem örtlichen Kalkstein sind. (Das Musée Fernand Legér zum Beispiel ist ein klares, schlichtes Bauwerk aus dem umgebenden Material.)
Und es fließt überall die Natur hinein. Die Städte sind löchrig, hier und da dringt das Ursprüngliche, das was einmal war, hindurch. Nicht immer als Grünraum oder Palme, auch als Stein oder Felsen. Das schafft doppelt Raum: Der Felsen als nicht planbare Skulptur und das Umfeld, das – durch den Felsen erzwungen – entsprechend geformt ist. Das ist ein sehr einfaches, aber unglaublich wirkungsvolles Prinzip.

Kann man das auf größere Maßstäbe übertragen?

Man kann das vielleicht auch auf eine Großstadt übertragen, es würde aber dem extrem ausgeprägten Utilitarismus, der Bodenspekulation, dem maximalen Ausnützen und dem Raster der Stadt entgegenlaufen. Aber eine mögliche Lösung wäre es.

Welches sind die wichtigsten Kriterien für Architektur?

Unglaublich wichtig ist das Handwerk, die Art wie etwas gemacht wird.

Meinen Sie damit die Liebe zur Tätigkeit, zum Tun?

Ja, und die Hingabe dazu. Wenn ich als Lüftungstechniker eine Anlage baue, sollte es mein Ziel sein, dass ein gutes Raumklima entsteht und dass es handwerklich vernünftig ausgeführt ist. Das gilt auch für den Architekten. Da fehlt aber auch wieder die Zeit. Man darf sich heute bei keinem modernen Gebäude ein Detail näher anschauen – da verliert man die Freude am Ganzen. Niemand überlegt sich heute, wie eine Sockelleiste an einen Türstock anstößt – das kommt aber in jedem Bauwerk hundert mal vor – die wird einfach abgeschnitten und seitlich kann man reinschauen. In keinem Gründerzeitgebäude oder Barockbau findet man so eine Schlamperei.

Wir können nie etwas Wertvolles schaffen, wenn wir uns die Zeit dafür nicht nehmen. Wenn ich sehe, wie sehr sich ein Auftraggeber freut, dass ich ihm eine Handzeichnung, die farbig angelegt ist, bringe, dann ist das eine Bestätigung für mich. Und der Auftraggeber kann sicher sein, das hat Zeit gekostet und das hat ein Mensch für genau diese Aufgabe gemacht, nicht eine Maschine. Schließlich bin ich ja sein Gesprächspartner und ich bin eigentlich ein Handwerker. Ich betrachte es als meine Aufgabe, vom ganz großen Städtebau bis zum Sockeldetail oder einem Verkaufspult alles mit Überlegung und Aufmerksamkeit zu erledigen. Die wenigsten Architekten verstehen den Beruf heute so, die meisten agieren als Dirigenten von Kapital- und Zeitflüssen.

Wohin wird sich, oder soll sich unsere Architektur entwickeln?

Da ist meine Sicht ziemlich negativ. Ich glaube, dass Architektur immer mehr zu einer Frage der Wirtschaftlichkeit verkommt und zum Gegenstand und Mittel der Spekulation wird.

Das gängige Schlagwort dafür ist der neoliberale Kapitalismus!

Ja, eine sehr negative Entwicklung und die „exaltierte“ Stararchitektur trägt unwissentlich dazu bei. Indem sie mit ausgefallenem Design versucht, den sehr eingleisigen Weg der neoliberalen Verwendung von Raum zu verkleiden und Gebäude zu einem ungewöhnlichen Pilgerort für Touristen zu machen.

Sie unterstellen also den Stararchitekten keine schlechten Absichten, sondern naive Unwissenheit und Blindheit.

Es ist vor allem auch der Spieltrieb und Freude daran, etwas Außergewöhnliches schaffen zu wollen – was ja durchaus legitim ist. Aber man merkt dabei gar nicht, dass man eigentlich für den Teufel arbeitet …

Text:©Peter Reischer

 

PEOPLE Kolumne Teil 4

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Kategorie: Architekten im Gespräch, Kolumnen