Die entsiegelte Stadt
Wie lassen sich bestehende urbane Ressourcen – wie Leerstand und Rückbaumaterial – sowie neue regenerative Flächen für Begrünung und Anbau in einem zirkulären System nutzen? Dieser Frage sind Nathaniel Loretz, Pia Bauer und Carina Loretz im Rahmen des diesjährigen Superscape Wettbewerbs nachgegangen. Ihr Ansatz fokussiert sich auf die langfristige Erhaltung und Erneuerung der Stadt durch ökologische Maßnahmen, die sowohl das städtische Ökosystem stärken als auch den urbanen Raum nachhaltig aufwerten sollen.
Das Konzept „Die entsiegelte Stadt“ befasst sich konkret mit der Neugestaltung eines Stadtblocks in Wien Ottakring. Zwischen Thaliastraße, Koppstraße, Panikengasse und Possingergasse gelegen, finden 6.500 Bewohner in dem 13.4 ha großen Grätzl ein Zuhause. Dem Projekt-Trio lag die Entwicklung eines sich selbst erhaltenden Lebensraums am Herzen. Um dies zu erreichen, sollen durch flächendeckende Entsiegelung Asphalt- und Betonflächen durch Grünflächen ersetzt, natürliche Kreislaufsysteme eingerichtet und abgetragene Materialien für neue Bauprojekte wiederverwendet werden, um das Stadtklima zu verbessern und zirkuläre Abläufe zu fördern.
So könnten die Abbruchmaterialien der Straßen nach Zerkleinerung und Klassifizierung in verschiedenen Bauprojekten wiederverwendet werden, etwa als Schotter, recycelter Asphalt oder Betonaggregate. Diese Wiederverwendung könnte Ressourcen sparen und die ökologische Qualität der Bauprojekte durch das Ersetzen von Primärrohstoffen durch aufbereitete Materialien verbessern. Nach der Entsiegelung und Auflockerung des Bodens wollen Nathaniel Loretz, Pia Bauer und Carina Loretz durch den Einsatz von Terra Preta, einer Mischung aus Kompost, Pflanzenkohle, Gesteinsmehl und Mikroorganismen, die Bodenfunktion wiederherstellen und nachhaltiges Pflanzenwachstum fördern. Diese Methode soll die Wasserspeicherung, Nährstoffversorgung und CO2-Bindung verbessern, während Regenwasserspeicher für eine ausreichende Bewässerung sorgen und das Stadtklima optimieren.
Im entsiegelten Superblock würde der öffentliche Raum von Autos befreit und in Erholungs- und Nahversorgungsflächen umgewandelt, während Anwohner Dachflächen, Miniäcker und Beete für den Eigenanbau nutzen könnten. Workshops und Veranstaltungen sollen den Wissensaustausch zu Themen wie Permakultur und Urban Gardening fördern, auch Schulen würden eingebunden, um Schülern natürliche Kreisläufe näherzubringen, während begrünte Fassaden und der reaktivierte Ottakringer Bach das Mikroklima laut den Verfassern verbessern sollen.
Das Projektteam
Mit ihrem Projekt „Die entsiegelte Stadt – Stadtraum als Ressource der Zukunft“ haben es Nathaniel Loretz, Pia Bauer und Carina Loretz 2024 auf die Shortlist des Superscape Wettbewerbs geschafft. Ihr Konzept zielt darauf ab, urbane Flächen zu entsiegeln und sie in regenerative, nachhaltige Lebensräume zu verwandeln. Dabei wird insbesondere die Entsiegelung eines Superblocks als Ausgangspunkt für einen Prozess betrachtet, der möglichst viel Naturraum in die Stadt zurückbringt und die Potenziale des Stadtraums optimal nutzt.
Nathaniel Loretz (Jahrgang 1995)
Nathaniel Loretz hat einen Studienabschluss als Bachelor of Architecture am Institut für Kunst und Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien sowie einen Master of Architecture im Studio diazmoreno garciagrinda der Universität für Angewandte Kunst und ist seit Mai 2023 als Architekt bei the Next Enterprise in Wien tätig.
„Mein Interesse in der Stadtplanung liegt darin, Ressourcen sowohl im städtebaulichen als auch im architektonischen Maßstab zu finden und zugänglich zu machen. Dabei birgt die Umnutzung und Gestaltung des öffentlichen Raums, den das Auto einnimmt, ein enormes Potenzial für eine klimaresiliente Zukunft der Stadt.“
Pia Bauer (Jahrgang 1994)
Pia Bauer hat einen Studienabschluss als Master Kunst & Architektur der Akademie der bildenden Künste und ist seit Anfang 2022 als freischaffende Künstlerin im Bereich der reellen und digitalen Raumproduktion in Wien tätig.
„Mein Interesse gilt dem Erkennen von Potenzialen und der Nutzung öffentlicher und ungenutzter Räume innerhalb der Stadt. Durch transdisziplinäres Arbeiten und das Einbeziehen vorhandener Ressourcen in alle Aspekte meiner Arbeit, strebe ich danach, Ideen für Orte mit neuen Möglichkeiten zu formulieren. Unsere Städte können noch viel mehr, wir sollten anfangen umzudenken!“
Carina Loretz (Jahrgang 1997)
Carina Loretz hat das Studium Ecodesign an der FH Campus Wieselburg mit dem Master abgeschlossen. Sie ist aktuell als Sustainability Consultant bei ClimatePartner Austria GmbH tätig und absolviert berufsbegleitend eine Ausbildung im Bereich Klimapädagogik.
„Urbane Räume bergen ein Riesen-Potential für eine klimaschonende Lebensweise. Obwohl man in Städten in der Regel nicht auf das Auto angewiesen ist, ist Wien nach wie vor eine Autostadt. Hier braucht es ein drastisches Umdenken!“
Nachgefragt bei Nathaniel Loretz, Pia Bauer und Carina Loretz
Wie definiert ihr den Begriff „urban space as a resource“?
Zuallererst sehen wir den bestehenden Stadtraum als wertvolle Ressource, die durch strategische Nutzung und Umgestaltung bereits versiegelter Flächen nachhaltig aktiviert werden kann. Dabei beziehen wir nicht nur die physische Infrastruktur mit ein, sondern auch ökologische, soziale und kulturelle Aspekte. Dies umfasst alles – von für die Wiederverwendung anfallendem Abbruchmaterial über organische Ressourcen wie Bäume, Laub, Obst und Gemüse bis hin zu den Stadtbewohner:innen selbst. Wir wollen diese vielfältigen Elemente als integrierte Ressourcen betrachten und nutzen. Durch die Entsiegelung von Flächen und das Einflechten von Grünanlagen möchten wir biodiversen Lebensraum revitalisieren und so zur Schaffung einer lebendigen, resilienten Stadt beitragen.
Welche spezifischen Herausforderungen des Klimawandels und der Urbanisierung adressiert ihr mit eurem Konzept?
Unser Konzept zielt darauf ab, mehrere drängende Herausforderungen anzugehen. Die Entsiegelung bringt neue Grünflächen hervor, die kühlende Mikroklimata schaffen und der Überhitzung urbaner Räume entgegenwirken. Zudem tragen urbane CO2-Senken und die signifikante Reduktion des Verkehrs wesentlich zur Verbesserung der Luftqualität bei. Autarke Systeme innerhalb der entsiegelten Stadtteile, die lokale Nahrungsmittelproduktion und erneuerbare Energien integrieren, ermöglichen eine nachhaltigere Nahrungs- und Energieversorgung.
Inwiefern spielt die Interdisziplinarität dabei für euch eine Rolle?
Interdisziplinarität ist ein zentraler Bestandteil unseres Konzepts, da die Herausforderungen im urbanen Raum eine enge Zusammenarbeit verschiedener Akteur:innen erfordern. Es ist entscheidend, dass die Bereiche der Architektur, Stadtplanung, Bauwesen, Materialwissenschaft, Biologie, Partizipation, Verwaltung und Landschaftspflege, etc. synergetisch agieren. Diese Vielfalt an Perspektiven und Fachkenntnissen bereichert jedes Projekt und bietet eine Grundlage für innovative Lösungen. Transdisziplinarität gewährleistet, dass möglichst viele relevante Aspekte berücksichtigt werden können – in diesem Fall, um eine resiliente Stadtentwicklung anzustoßen.
Welche langfristige Vision habt ihr für die Zukunft der urbanen Räume bis 2050?
Unsere Vision für 2050 sieht die Transformation mehrerer versiegelter Stadtviertel in Wien vor, insbesondere in Bereichen, die im Sommer als Hitzeinseln bekannt sind. Wir antizipieren lebendige, begrünte Flächen, die den Bewohner:innen unmittelbaren Zugang zur Natur bieten und als multifunktionale Räume fungieren. Mensch und Umwelt sollen harmonisch koexistieren und gleichzeitig neue Kreisläufe ermöglichen.
Was war die Hauptmotivation bei der Entwicklung einer entsiegelten Stadt?
Wir wollten damit aufzuzeigen, welche Möglichkeiten sich eröffnen und wie viel neu nutzbarer Raum entstehen kann, wenn der Straßenraum für alternative Nutzungen zur Verfügung steht, anstatt ausschließlich der individuellen Automobilmobilität zu dienen. Darüber hinaus möchten wir die Stadt als bereits vorhandene Ressource hervorheben, die durch Rück- und Umbaustrategien neue Potenziale entfalten kann. Unser Ziel besteht darin, bestehende Stadtgefüge so zu transformieren, dass asphaltierte Straßen eine untergeordnete Rolle einnehmen, während die Errungenschaften wie Nahversorgung und Mobilität erhalten bleiben. Diese Vision, lebenswertere, nachhaltige und multifunktionale urbane Räume zu schaffen, die den Bedürfnissen der Bewohner:innen gerecht werden und eine neue Form der städtischen Interaktion fördern, führte letztendlich zur Entwicklung des Projekts.
Text: Linda Pezzei
Kategorie: Architekten im Gespräch, Architekturszene, Kolumnen, Sonderthema, Start