Die grüne Fassade der Moderne
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt mittlerweile in Städten. Derzeit ist davon auszugehen, dass sich der Anteil an Stadtbewohnern in Zukunft weiter vergrößert. Dabei sind Städte heute für mehr als 70 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs und der Erzeugung von CO2-Emissionen verantwortlich. Es stellt sich daher durchaus die Frage, ob urbane Konglomerationen zum Erreichen der Klimaziele nicht kontraproduktiv sind. Laut Architekt Rudi Scheuermann ist die voranschreitende Urbanisierung und Globalisierung aber nicht etwa das Problem, sondern vielmehr ein Teil der Lösung.
Amtsgebäude der MA 48 am Wiener Gürtel © C. Fürthner
Wird nämlich der CO2-Ausstoß in einer Großstadt pro Kopf ermittelt, fällt der Wert in urbanen Arealen um bis zu 40 Prozent geringer aus als in dünn besiedelten Gebieten. Für die bessere Umweltbilanz sind kleinere Wohnräume, die vermehrte Nutzung des Öffentlichen Verkehrs und kürzere Wege verantwortlich.
Und trotzdem stehen auch Städte vor der Herausforderung, bis 2050 klimaneutral zu werden. Gemäß Experten ist der Einsatz von Stadtbegrünung, erneuerbarer Energie und nachhaltiger Mobilitätskonzepte dafür unverzichtbar. Große Entwicklungen gab es in den letzten Jahren vor allem in Bezug auf Fassaden- und Dachbegrünungen.
Die Folgen des Klimawandels eindämmen – Lebensqualität steigern
Begrünte Städte helfen nicht nur bei der Bekämpfung des Klimawandels, sondern sie steigern langfristig auch die Wohn- und Lebensqualität der Bewohner. Pflanzen an der Fassade wirken obendrein wärme- und schalldämmend. Mit ihnen ist es möglich, störende Umgebungsgeräusche im Gebäude zu reduzieren – im Winter fungieren sie als lokale Isolation, wobei sie die Wärme speichern, während sie im Sommer einen kühlenden Effekt haben. Der Dämmungseffekt der Fassadenbegrünung ist dadurch mit positiven Auswirkungen auf die Heizkosten und den CO2-Verbrauch durch Klimageräte verbunden.
Nicht zu vernachlässigen ist schließlich der gestalterische Effekt grüner Hausfassaden. Sie werten das Gebäude und – in weiterer Folge – den betreffenden Stadtteil ästhetisch auf.
Werden zusätzlich Dachbegrünungen realisiert, findet damit eine Rückgabe versiegelter Flächen an die Natur statt. Kleintieren wird somit mehr Lebensraum in urbanen Gebieten zur Verfügung gestellt, wobei die Pflanzen Vögeln und Bienen Nahrungsquellen und Nistplätze bieten. Ist ausreichend Fläche vorhanden, lassen sich bepflanzte Dachbereiche auch von Menschen zur Erholung nutzen.
Das 2016 sanierte Gebäude der MA 31 im 6. Wiener Gemeindebezirk © Salama Iman
Stadtbegrünung als essenzielle Zutat für die zukunftsfähige Stadt
Die Stadtbegrünung leistet also zweifelsohne einen essenziellen Beitrag zum Klimaschutz. Um nachhaltige Veränderung zu erzielen, darf die grüne Architektur gemäß Scheuermann aber nicht bloße „Zutat“ bei Neubauten sein. Nicht selten wird das üppige Grün an den Fassaden bei sogenannten Nachhaltigkeitsprojekten zu Marketingzwecken genutzt. Die Frage nach dem Klimaschutz stellt sich besonders dann, wenn der Bestand solchen Neubauten weichen muss. Laut Architekt Scheuermann setzen Städte, die dies oft nicht nötig hätten, auf kostspielige und ressourcenintensive Wohntürme, die durch grüne Wände umweltbewusst erscheinen sollen. Wollen Planer ein Quartier tatsächlich klimaneutral gestaltet, geht es in erster Linie darum, Instandhaltungs- und Sanierungsmöglichkeiten auszuloten.
Natürlich ist unbestritten, dass Begrünungen von Dächern und Fassaden die Auswirkungen des Klimawandels eindämmen. Im Sommer heizen sich die betreffenden Bauteile nicht so stark auf, wobei sich die Verdunstungskälte der Pflanzen auch für die Kühlung des Innenbereichs einsetzen lässt. Bei intelligenter Planung ist es sogar möglich, Grünelemente mit Photovoltaik zu kombinieren. Diese Anlagen arbeiten bei mittleren Temperaturen äußerst effektiv, wodurch es also die Dach- und Fassadenbegrünung schafft, deren Effizienz zu maximieren.
Klimaneutral wird ein Stadtteil aber erst dann, wenn die Fassadenbepflanzung in Kombination mit umweltschonender Architektur zum Einsatz kommt. Positivbeispiel für die Umsetzung einer grünen Fassade am Bestand ist das Amtsgebäude der MA 48 am Wiener Gürtel. Auf einer Fläche von 850 Quadratmetern wurden nach den Plänen von Rataplan Architektur 2.850 Laufmeter Pflanzentröge aus Aluminium angebracht. Die Verkleidung aus 17.000 Pflanzen dient auf dem Bau aus den 1960er-Jahren nicht nur dem CO2-Ausgleich, sondern sie ist gleichzeitig Wärme- und Schalldämmung.
Ursachen statt Symptome bekämpfen
Mit der Stadt- und Gebäudebegrünung wird es niemals möglich sein, die Auslöser des Klimawandels zunichte zu machen. Die nachhaltige Gebäudeverkleidung lindert zwar die Symptome, aber nicht die Ursache der globalen Erwärmung. Es spricht selbstverständlich nichts dagegen, die Auswirkungen der zunehmenden Luftverschmutzung und Temperaturzunahme in Siedlungsgebieten auf diese Weise zu mildern. Allerdings ist die Baubranche dazu angehalten, weitreichendere Lösungen für eines der wohl größten Probleme der heutigen Zeit zu finden.
Anstatt auf kostspielige und CO2-lastige Prestigeprojekte mit grünen Fassaden zu setzen, empfiehlt es sich eher, bestehende Objekte zu begrünen und so im Kleinen zu agieren. Das Ziel besteht darin, die Bepflanzung an Fassaden und Dächern zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen – und das nicht nur bei Großprojekten.
Stadthaus M1 in Freiburg © Zooey Braun
Das Zusammenspiel der Materialien
Die Kombination von Pflanzen und Fassaden verlangt Architekten auch ein genaues Wissen über Bausubstanzen und deren Eigenschaften ab. Ist ein Haus zu begrünen, muss dieses in einwandfreiem Zustand sein. Liegt eine hohe Widerstandsfähigkeit vor, können auf dem Gebäude selbst Haftwurzler wie Wilder Wein oder Efeu wachsen. Allein aus diesem Grund werden Fassadenbegrünungen häufig auf Neubauten installiert. Bereits während dem Hausbau ist es möglich, die Anbringung der Bepflanzung mit einzuplanen und die Außenhülle entsprechend robust zu gestalten – besonders gut eignen sich Aluminium- und Stahlfassaden. Noch junge Fassaden haben zudem den Vorteil, frei von Rissen zu sein.
Das heißt allerdings nicht, dass bei Altbauten auf Begrünungen dieser Art verzichtet werden muss. Allerdings ist im Vorfeld der Zustand der Fassade genau zu untersuchen. Bestimmte Pflanzenarten können bei Materialien, die bereits in die Jahre gekommen sind, etwaige Schäden verschlimmern. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich erwähnte Haftwurzler in Spalten oder Rissen festsetzen. Aus diesem Grund eignen sich Häuser mit Verkleidungen aus Schindeln oder vorgehängten Wandplatten ebenfalls schlecht für die Bepflanzung. Dass Fassadenbegrünung am Bestand funktioniert, zeigt das 2016 sanierte Gebäude der MA 31 im 6. Wiener Gemeindebezirk. In diesem Fall wurde die Bepflanzung am Bau aus den 1960er-Jahren nicht direkt angebracht – die Installation erfolgt über eine Tragkonstruktion, die die Architekten von Rataplan auf eigenem Fundament vor das Gebäude stellten.
Beliebt ist aber nicht nur die Fassadenbegrünung mit Kletterpflanzen, sondern auch die Bepflanzung von Bauten mithilfe von Trögen. Solche Maßnahmen sind von den zuständigen Architekten bereits bei der Planung mitzudenken. Andere Varianten – wie beispielsweise Tragkonstruktionen für Ranken – lassen sich aber auch im Nachhinein realisieren.
Stadthaus M1 in Freiburg © Zooey Braun
Die Fassadenbegrünung dem Gebäude anpassen
Heute ist es auf unterschiedliche Weise möglich, Pflanzen an die Fassade zu bringen. Bei Alt- sowie bei Bestandsbauten erfreut sich vor allem die Fassadenbegrünung mit Kletterpflanzen großer Beliebtheit. Durch die Unterstützung ausgeklügelter Ranksysteme lassen sich die Gewächse an der Wand hinauf leiten. Hierbei wird zwischen einem Edelstahlseilnetz und einem Gerüstsystem zur Rankhilfe unterschieden. Das Seilkonstrukt leitet die Pflanzen mit einer Kombination aus Edelstahlseilen und Klemmen in die gewünschte Richtung, während das Gerüst als Stütze entlang der Wand fungiert – gelungen setzten diese Technik die Architekten Barkow Leibinger am Stadthaus M1 in Freiburg um.
Experten bedienen sich heute aber auch der flächigen Fassadenbegrünung. Diese setzt sich aus bepflanzten Vliesmodulen mit einer Unterkonstruktion als Verbindungselement zusammen. Dadurch ist es möglich, die Konstrukte mit der Fassade zu verbinden – die Außenhaut des Gebäudes ist damit bereits nach der Montage begrünt, sodass keine langen Wuchszeiten abgewartet werden müssen. Die Pflanzen wachsen des Weiteren in der Fassade selbst, womit eine hohe Gestaltungsvielfalt gegeben ist – das Be- und Entwässerungssystem ist übrigens in die Bauteile integriert und von außen nicht zu sehen. Da die begrünten Elemente bereits mit der gewünschten Bepflanzung geliefert werden, ist es ganz einfach möglich, die Fassadenbegrünung in sämtlichen Teilbereichen und Höhen unterzubringen. Der Einsatz dieser Variante ist natürlich mit höheren Baukosten verbunden, wobei sie sich fast ausschließlich für Neubauten eignet.
Geht es um den Klimaschutz, ist die Fassadenbegrünung für den Städtebau sicherlich eine wichtige Ergänzung. Sie zählt mittlerweile zu den Maßnahmen, die in der Stadt der Zukunft als essenzielle Zutat gehandelt wird, wobei sie nicht nur dem Umweltschutz, sondern obendrein der Lebens- und Wohnqualität dient. Das Problem des Klimaschutzes vermag die Gebäudebegrünung aber allein nicht zu lösen. Architekten stehen heute vor der Herausforderung, die Bauplanung ganzheitlich zu betrachten – es gilt, veraltete Strukturen zu durchbrechen und den Lebenszyklus von Baumaterialien und Gebäuden zu maximieren. Dabei ist zu bedenken, dass die Konstruktion von neuen Gebäuden mit einem hohen CO2-Verbrauch einhergeht. Kurz gesagt: Auch eine noch so grüne Stadt, kann die negativen Folgen der Materialverschwendung nicht ausgleichen.
Text: Dolores Stuttner
Kategorie: Architekturszene, Kolumnen