Gute Architektur beinhaltet drei Schritte
Der Wiener Architekt Albert Wimmer zählt zu den profiliertesten Architekten des Landes und hat über Jahrzehnte hinweg die Architektur- und Stadtlandschaft geprägt. Mit der Gründung seines Ateliers im Jahr 1977 und der kontinuierlichen Erweiterung seines Tätigkeitsfeldes durch die Gründung mehrerer Gesellschaften hat Wimmer ein beeindruckendes Portfolio aufgebaut, das Projekte im Wohnbau, Gesundheitswesen, in der Mobilität sowie in der Stadtplanung umfasst. In unserem Interview spricht er über seine Ansichten zur gesellschaftlichen Verantwortung von Architekten, seine Rolle im Spannungsfeld zwischen Kunst und Wirtschaft und darüber, warum sein Credo „Never do the same“ einen zentralen Platz in seiner Arbeit einnimmt.
© Lisi Specht
Der Einstieg auf Ihrer Website lautet: Architektur kann und soll zur Schaffung einer offenen Gesellschaft beitragen. Wie genau muss dieser Beitrag aussehen?
Zunächst muss man sich der gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein, dann in die Gesellschaft hineinhorchen und in der Folge unter sorgfältiger Abwägung der Argumente das gemeinsame Wohl in den Vordergrund stellen. Als Architekten können wir nicht die Gesellschaft verändern, aber wir haben alle Möglichkeiten, die Voraussetzungen für Veränderungen zu schaffen. Lassen Sie mich das beispielhaft erklären: Der öffentliche Raum befindet sich gegenwärtig im Fokus der gesellschaftlichen Debatte. Wir Architekten können autogerecht planen oder wir denken radikal und schaffen Voraussetzungen für ein gerechtes soziales Miteinander.
Radikale Denkansätze scheitern aber meist an den Realitäten. Bleiben wir beim Beispiel Auto: Welche Lösungen kann Architektur anbieten, um die polarisierte und polarisierende öffentliche Debatte darüber in eine pragmatische, von allen gesellschaftlichen Gruppen akzeptierte Richtung zu lenken?
Da setze ich voll auf die Haltung der jüngeren Generation, das Thema Auto steht nicht mehr im Fokus und wird von wichtigeren Themen wie dem Klima abgelöst. Die Umstrukturierung des öffentlichen Raums ist voll im Gang, dogmatisch beharrende Positionen werden bestehen bleiben und bei diesen Gruppierungen ist kein gemeinsames Verständnis möglich. Bei allen anderen sind Anstrengungen für ein radikales Umdenken zielführend.
Hauptbahnhof Wien © Helmut Pierer
Wie definieren Sie Ihre Rolle als Architekt im Spannungsfeld der Architektur zwischen Kunst, Wirtschaft und dem von manchen nicht gern gehörten Begriff Dienstleistung?
Ich habe mit dem Begriff Dienstleister für die Gesellschaft kein Problem, hingegen bin ich als Dienstleister für eine rein profitorientierte Immobilienwirtschaft nicht zu haben. Architektur braucht Wirtschaft, genauso wie Kunst, nur muss es richtig verstanden sein, das heißt der Künstler/Architekt muss in der Lage sein, seine Prioritäten in seinem Werk gekonnt richtig zu setzen, ebenso wie der Ökonom/Architekt die wirtschaftlichen Möglichkeiten richtig abschätzen muss. Beispielhaft sei zitiert: Opfert man alles einer überproduktiven Technologie, wie es die Automobilindustrie gerade vorlebt und vollzieht, dann sehen eben alle Autos gleich aus. Es gibt gegenwärtig keine genialen Entwürfe, erinnern Sie sich an den 2CV Citroen oder den Citroen D Pallas.
Der modernen Architektur wird auch oft vorgeworfen, dass alles gleich aussieht, vor allem im großvolumigen Wohnbau und im Bürobau. Ist heutzutage, wo Sparen die oberste Maxime ist, der individuelle Entwurf noch möglich, auch wenn „Unnötiges“ Mehrkosten verursacht?
Die moderne Architektur zeigt sich gegenwärtig in unterschiedlichen Ausprägungen und vermittelt sich in verschiedensten Experimenten. Die Vielzahl an konzeptuellen Ansätzen erschwert es, richtungsweisende Werke zu identifizieren und zu definieren. Lokale Strömungen gewinnen an Bedeutung, womit gravierendes Umdenken auch Platz gegriffen hat. Motor für dieses Umdenken war und ist der architektonische Entwurf, die visionäre Raumkonzeption, sowie der herausfordernde Dialog jenseits ökonomischer Zwänge.
Klinik Floridsdorf © Rupert Steiner
In welcher Architekturtradition reihen Sie sich ein? Haben Sie Vorbilder, Lehrmeister?
Cedric Price, Georges Candilis, Superstudio, Jaap Bakema, sowie in die Tradition der Wettbewerbssüchtigen, denen gleicher Zugang zu Ressourcen für alle wichtig ist, zu jenen, denen modische Erscheinungen widerstreben und zu jenen, die ihre Entwürfe erkämpfen wollen und bei denen die Umsetzung im Vordergrund steht.
Ihr Büro kann auf Projekte in vielen Bereichen verweisen – Wohnbau, Gesundheitsbau, Mobilität und auch Stadtplanung. Um ein so breites Spektrum abzudecken, braucht es eine gemeinsame Klammer. Können Sie diese beschreiben?
Meine gemeinsame Klammer ist: Never do the same, sondern beobachte genau gesellschaftliche Veränderungen und sei in deinen Werken diesen visionär voraus. Meine gemeinsame Klammer heißt auch Wettbewerbsgewinn. Um an einem Wettbewerb teilzunehmen, bedarf es für mich folgender Voraussetzungen: Qualität der Ausschreibung, eine qualitätsvolle Jury, ein Thema, zu dem ich mich berufen fühle, etwas beizutragen und auszusagen. Bei Gesundheitsbauten beispielsweise zeigt sich sofort der Anspruch auf soziale Gerechtigkeit für jene, denen es verdammt schlecht geht – hoffentlich nur vorübergehend –
und wie Architektur ein Wohlfühlambiente schaffen kann. Architektur kann helfen, Angst vor dem Spitalsaufenthalt abzubauen, sogar Persönlichkeit und Eigenständigkeit zurückgeben. Dies haben wir bei der Klinik Floridsdorf mit der Entwicklung des mobilen Schranks bewiesen. Der Sprung von Sportbauten zu Infrastrukturbauten wie Bahnhöfen ist ein kleiner, hat man kapiert, was Massen bewegt. Weiß man, was Grätzlqualität sein kann, so führt am Wohnbau und an der Stadtplanung kein Weg vorbei.
Haus B, Salzkammergut © Lisi Specht
Alle von Ihnen als Vorbilder genannten Architekten waren auch stadtplanerisch tätig. Was braucht es, um ein guter Stadtplaner zu sein?
Ein guter Stadtplaner ist ein Visionär, der den Kampf gegen Windmühlen nie aufgibt.
Wie definiert sich für Sie gute Architektur?
Gute Architektur beinhaltet drei Schritte: Gekonntes Handwerk ist die Basis, ein stark lesbares Konzept folgt als nächster Schritt und die kompromisslose Umsetzung bedeutet die Vollendung.
Wie schätzen Sie die Bedeutung von Architekturwettbewerben ein? Sind offene Wettbewerbe Ressourcenverschleuderung oder eine Notwendigkeit?
Wettbewerbe sind Kulturbeiträge. Was gegenwärtig falsch läuft, ist, dass Ausschreibungen zu sehr in die Hände der Juristen gelegt werden und die Einschränkungen zu rigoros stattfinden. Wenn frische junge Gedanken ausgeschalten werden sollen, dann kann das fatale Portfoliobewertungssystem beibehalten werden.
Odeongasse, Wien © Pez Hejduk
Was kann man als Architekt aus einem verlorenen Wettbewerb lernen?
Derzeit nichts, da die Wettbewerbsergebnisse keine Spielräume mehr akzeptieren.
Ist dieser Trend unaufhaltsam und der offene Wettbewerb damit tot oder lässt sich der Trend umkehren?
Eine Trendumkehr tritt erst dann ein, wenn Bauherren wieder auf die Bühne treten, die sich zu mutigen Entscheidungen durchringen können und dafür mediale Zustimmung erfahren.
Partizipation scheint für Sie, zumindest im Wohnbau, ein wichtiges Element der Planung zu sein. Verliert Architektur damit nicht ihren originären Charakter, wenn Laien mitplanen?
Bottom up und top down beherrschen die Kreativität, es ist nur eine Frage des Timings, wie diese beiden Richtungen synchronisiert werden. Jedenfalls dirigiert der Architekt. Respekt vor Professionalität ist ebenso erforderlich wie ein klares Verständnis und Kommunikationsbereitschaft für das Anliegen derer, für die wir arbeiten.
Thierfelderstrasse, Rostock © ZOOMVP
Welche Ihrer Projekte würden Sie als Lieblingsprojekte bezeichnen und warum?
Das Wort Lieblingsprojekte lehne ich ab, da ich mit vollstem Engagement bei jedem Projekt arbeite unabhängig von der Größe. Wenn für die Aufgabe kein Feuer brennt, ist das Ergebnis Mittelmaß.
Sie legen Wert auf die Freihandskizze. Warum?
Ohne Bleistift in der Hand kann ich nicht denken, der freihändige Strich bündelt das gesamte Wissen, die gesammelten Emotionen, sowie mögliche Visionen.
Heute werden nicht nur Ausführungspläne am Computer gezeichnet, auch beim Entwurfsprozess spielt er eine immer größere Rolle. Geht damit eine Kunst verloren?
Der Computer ist ein Werkzeug, das richtig einzusetzen ist, ein durchaus wertvolles Tool, sowie es auch die KI ist. Mehr steckt nicht darin.
Was können Sie jungen Architekten mitgeben, wohin sollte sich Architektur Ihrer Meinung nach entwickeln?
Die Kolleg:innen müssen selbst entscheiden, was Zukunft für sie sein kann. Ich zeige zwei Richtungen auf: Richtung eins ist die Autoindustrie, aufbauend auf perfekten Tools der Industrialisierung und dem Ausblenden von visionärem Denken. Richtung zwei ist ein radikales Abwenden von den aufwendigen Portfoliobewerbungen zum Nachweis der Fähigkeiten und Öffnung zum neuen Denken und Forschen.
Interview: Roland Kanfer
Kategorie: Architekten im Gespräch, Kolumnen