Im Auge des Betrachters – Material und Oberfläche in der Architektur
Material und Oberfläche in der Architektur sind untrennbar mit dem historischen, kulturellen und geografischen Umfeld verbunden, in dem sie zum Einsatz kommen. Dennoch hat sich durch die Globalisierung und Technisierung unserer Welt der Kontext stark verändert. Spannend ist daher vor allem, wie Architekten heute beim Bauen im Bestand auf solche gewachsene Strukturen reagieren.
Aus historischer Sicht hängen die architektonischen Bauformen ebenso wie die verwendeten Materialien direkt mit den kulturellen, geografischen und klimatischen Bedingungen vor Ort zusammen. So garantierten leichte Zeltkonstruktionen den Nomadenvölkern Schutz, aber auch Flexibilität. Pfahlbauten machten überschwemmungsgefährdete Sumpfgebiete bewohnbar, Fachwerkhäuser wiederum spiegeln den Reichtum an Holz der waldreichen Gegenden Mittel- und Nordeuropas wider. Die extrem dicken Wände aus massivem Naturstein hingegen boten den Bewohnern Apuliens in ihren Trulli zum einen Schutz vor der sengenden Sommerhitze, zum anderen einen Wärmespeicher in den kalten Wintermonaten.
Vom Iglu bis zur Almhütte lässt sich auf diese Weise für jede Region der Erde die spezifische Bauweise finden, mit deren Hilfe sich der Mensch im Laufe der Geschichte die wilde Natur zum behaglichen Zuhause zähmte. Äußere Einflüsse wie Hitze, Kälte, Regen, Schnee, Wind und Wetter, aber auch Schutz vor Tieren und Feinden bestimmten die Form und Gestalt der jeweiligen Bauwerke. Manche Bauten waren improvisierte Gebilde auf Zeit, andere wiederum überdauerten Jahrhunderte. Die vor Ort vorhandenen Baumaterialien verliehen den Behausungen zusätzlich ihren regionalen Charakter und haben manche Landstriche bis heute auf diese Weise unverkennbar geprägt.
Doch mit der zunehmenden Globalisierung und fortschreitenden Technik verschwimmen diese regionaltypischen Bauformen und Materialien zusehends zu einem nicht identifizierbaren Konglomerat. Während Architekten sich früher konstruktiven Anforderungen und vorhandenen Baumitteln beugen mussten, scheint heute nahezu alles möglich – letztendlich entscheiden da vorrangig die Kosten – geht nicht, gibt es nicht. Nahezu alles ist jederzeit und an jedem Ort verfügbar – was bleibt ist die Qual der Wahl. Nach welchen Kriterien also entscheiden sich Architekten dieser Zeit, was für ein Material, welche Oberfläche für das geplante Projekt im Kontext der Umgebung das Passende ist? Geht es um das Hochhalten von Traditionen oder das Implementieren von Neuem? Und ist der traditionelle Lösungsansatz auch immer der Beste? Eine kurze Bestandsaufnahme im Hinblick auf das Bauen im Bestand.
Holz
Von Amerika über Europa bis Japan – Holz dient dem Mensch rund um den Erdball seit jeher als relativ leicht zu gewinnender und flexibel einsatzbarer Baustoff. In letzter Zeit erlebt dieser nachwachsende Rohstoff dank des Klimawandels und des damit einhergehenden verstärkten Fokus auf nachhaltige Bauweisen einen neuen Aufschwung. So sehen das auch die Planer des Wiener Architekturbüros JOSEP. Deren Leitmotiv lautet “Low-Tech”, also der bewusste Verzicht auf teure, komplizierte Technik. Im Gegenzug setzen sie im Entwurfsprozess auf die Nutzung einfacher Wirkungsprinzipien im Hinblick auf Funktion, Bedienung, Herstellung oder Wartung. So entstand auch die Idee für ein Projekt in Holzbauweise mit dem Namen 58 SEKUNDEN. So lange dauert es laut eigener Aussage nämlich, bis in der österreichischen Fabrik „Wald“ der Baustoff Holz für das Einfamilienhaus in Wien gewachsen ist. „Nicht für die Likes – fürs Herzerl ist dieses Haus“, sagen die Bauherren. Architektur, wie sie sein soll.
58 Sekunden
Wien, Österreich
Bauherr: Privat
Planung: JOSEP und KS Ingenieure
Statik: KS Ingenieure
Grundstücksfläche: 756 m2
Bebaute Fläche: 99 m2
Nutzfläche: 189 m2
Planungsbeginn: 2016
Bauzeit: 8 Monate
Fertigstellung: 2018
Fotos: Bernhard Fiedler
Ziegel
Beinahe ebenso alt und nicht weniger ikonographisch ist der Ziegel in der Welt des Bauens. Der sogenannte Backstein wird unter Hitzezufuhr aus keramischem Material künstlich hergestellt und im Verband verlegt, als Mauer oder auf dem Dach. Allen voran Nordeuropa ist bekannt für seine historische Ziegelarchitektur in den unterschiedlichen Formaten und markant leuchtenden Rottönen. Dies diente auch den Planern des in Frankfurt ansässigen Architekturbüros NKBAK als Inspirationsquelle für ihr Projekt STYLEPARK NEUBAU AM PETERSKIRCHHOF. In den vorhandenen Innenhof mit denkmalgeschützter angrenzender Ziegelbebauung sollte ein Wohn- und Geschäftshaus ergänzt werden. Im Konzeptgedanken der Architekten stand nicht die Abgrenzung, sondern das Weiterbauen und die Akzentuierung der verschiedenen vorhandenen Zeitschichten im Vordergrund: Die vorhandene Mauer aus Sand- und Ziegelsteinen wurde als Resultat mit Ziegelsteinen weitergebaut. „Ziegel ist ein sehr komplexes Material“, sagt Andreas Krawczyk von NKBAK. „Es bietet so viele Möglichkeiten – nicht nur in Bezug auf die Abmessungen, sondern auch bei Entscheidungen über die Verbindungen, die verschiedenen Schichten und das Format. Nur wenn wir verstehen, wie das Material funktioniert, können wir Ziegel in ein modernes Gebäude verwandeln.“
Stylepark Neubau am Peterskirchhof
Frankfurt am Main, Deutschland
Bauherr: Stylepark AG, Robert Volhard
Planung: NKBAK
Mitarbeiter: Nicole K. Berganski, Andreas Krawczyk, Simon Bielmeier, Shanjun Yu
Bauleitung: SWAP Architekten, Stefan Wagner
Statik: Wagner Zeitter Bauingenieure, Wiesbaden
Grundstücksfläche: 190 m2
Bebaute Fläche: 130 m2
Nutzfläche: 142 m2
Planungsbeginn: 08/2014
Fertigstellung: 05/2019
Fotos: Patricia Parinejad
So wie NKBAK das Historische des Ziegels würdigen, so manifestiert sich das vielseitige Baumaterial in dem Housing im mexikanischen Amatepec als modernes und elegantes Fassadenelement. Das Architektenteam rund um Manuel Cervantes wählte einen weißen Keramikziegel, um das Spiel zwischen Licht und Schatten und den Kontrast der verschiedenen Volumina herauszuarbeiten. Die fein strukturierte Keramikoberfläche bildet in diesem Zusammenhang einen harmonischen Kontrast zu den angrenzenden glatten Oberflächen wie Holz und Glas. Ziegel ist also nicht gleich Ziegel, ob roh und archaisch oder fein und nuanciert, ob als tragendes Element oder vorgehängte Verblendung, die Bandbreite dieses weltumspannenden Baumaterials scheint so vielfältig wie der Einsatz an sich.
Amatepec
Mexico
Planung: Manuel Cervantes Estudio
Fotos: Rafael Gamo
Beton
Auch wenn uns Beton im Gegensatz zu Holz und Ziegel heute als Baustoff der Moderne erscheinen mag, seine Geschichte reicht gut Zehntausend Jahre zurück, selbst beim Bau der Pyramiden kam bereits gebrannter Kalk zum Einsatz. Dennoch wird Beton in neuerer Zeit gerne gerade beim Bauen im historischen Bestand eingesetzt. Um die KASEMATTEN der Neuen Bastei in Wiener Neustadt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, konzipierten die Planer des slowenischen Büros BEVK PEROVIC ARHITEKTI ihre baulichen Maßnahmen daher als Intervention. Das Neue und Alte sollten sichtbar voneinander unterscheidbar und dennoch vereint erscheinen. So verschmelzen die historischen Backsteinstrukturen im Auge des Betrachters fast wie von selbst mit den ergänzenden, in Beton gegossenen Elementen. Bei diesem Projekt zeigt sich, wie moderne Baustoffe und -techniken gerade in Kombination mit vorhandenen historischen Strukturen erst ihren eigenen Charakter entwickeln können. Ganz im Gegensatz zum vorherrschenden Stigma des Kalten, Harten und Abweisenden wirken die Betonoberflächen in diesem Zusammenhang samtweich, warm und als schützender Raum.
NEUE GALERIE UND KASEMATTEN / NEUE BASTEI
Wiener Neustadt, Österreich
Bauherr: Gemeinde Wiener Neustadt
Planung: bevk perovic arhitekti
Mitarbeiter: Matija Bevk, Vasa J. Perovic, Johannes Paar, Christophe Riss, Mitja Usenik, Blaz Gorican, Irene Salord Vila, Masa Kovac Smajdek, Juan Miguel Hererro, Vid Tancer, Andrej Ukmar
Statik: Frohlich & Locher und Partner
Grundstücksfläche: 2.900 m2
Planungsbeginn: 2016
Bauzeit: 2017
Fertigstellung: 2019
Fotos: David Schreyer
Glas / Polycarbonat
Während Glas – ähnlich wie Beton – heute als eher hartes und ultramodernes Material gilt (Stichwort Wolkenkratzer und Glashäuser), so ergeben sich durch dessen innovativen Einsatz immer wieder auch poetisch anmutende Bauten. Zu diesem Eindruck tragen auch moderne transparente Baustoffe maßgeblich bei. Im Gegensatz zur Glaskunst reicht die Geschichte der transparenten Kunststoffe keine 100 Jahre in die Vergangenheit und obwohl es sich bei den Polycarbonaten nicht um Glas handelt, haben diese der Bauwelt doch in Kombination mit selbigem große Fortschritte beschert – man denke nur an das Verbundsicherheitsglas. Die Architekten von LEMOAL LEMOAL ARCHITECTURE PAYSAGE haben die Vorteile dieses modernen Baustoffes für ihr Projekt GARDEN TENNIS im französischen Carbourg entdeckt: “Wir haben uns hauptsächlich für Polycarbonat entschieden, weil wir den Holzrahmen hervorheben und eine Leuchtbox erstellen wollten. Das Projekt ist von traditionellen Fachwerkhäusern inspiriert. Die Verwendung des Polycarbonats bietet die Möglichkeit, die Struktur von der Außenhaut zu lösen.” Auf diese Weise wirkt das Bauwerk anmutig und leicht, fast schwebend. Das Innere der Umkleideräume ist lichtdurchflutet und dennoch vor Einblicken geschützt. Untertags wirkt das Clubhaus auf der Tennisanlage als stiller Betrachter, am Abend jedoch zeigt es sich von seiner selbstbewussten Seite, die Konstruktion strahlend in Szene gesetzt. Transparente Baustoffe leben – das liegt in ihrer Natur – vom Kontext und der Inszenierung, die mal laut, mal leise die Einzigartigkeit des Materials in Szene setzt.
Garden Tennis
Cabourg, Frankreich
Bauherr: Stadt Cabourg
Planung: Lemoal Lemoal Architecture Paysage
Statik: IBATEC
Grundstücksfläche: 24.905 m2
Bebaute Fläche: 100 m2
Nutzfläche: 100 m2
Planungsbeginn: 08-2017
Bauzeit: 6 Monate
Fertigstellung: 08-2019
Baukosten: 350.000 EURO
Fotos: Javier Callejas
Farbe
Kein Material im eigentlichen Sinne, aber dennoch von immer wieder überraschender gestalterischer Stärke ist das Stilmittel der Farbgebung. Seit die Menschen Farbpigmente für sich entdeckten, kam das daraus gewonnene kostbare Material, allen voran in den wichtigsten Bauwerken wie Sakralbauten oder öffentlichen Gebäuden, zum Einsatz. Später verschwanden die kunstvollen Verzierungen oft unter einer dicken Schicht weißer Farbe. Doch auch hier lässt sich in den vergangenen Jahren eine Trendwende erkennen: Es darf ruhig wieder bunter zugehen, je knalliger desto besser. Ein schönes Beispiel für den gelungenen Einsatz von Farbe als stilbildendes Mittel der Architektur ist die ERWEITERUNG DER GRUNDSCHULE im tschechischen Vřesovice aus der Feder von PUBLIC ATELIER und FUUZE. Deren Entwurf haucht dem bestehenden Barockkomplex neues Leben ein und betont die Verbindung von neuen und ursprünglichen Elementen, wobei diese durch Formen, Materialien und Farben klar voneinander unterschieden werden. „Markante Farben haben uns geholfen, die neuen Verbindungs- und Ergänzungsbauten klar abzugrenzen und eine gewisse Ordnung zu suggerieren. Diese relativ radikale Lösung hielten wir in diesem Kontext für angemessen“, erklären die Architekten ihren Entwurfsgedanken.
Ob konsequente Weiterführung historischer und regionaler Bauweisen, bewusster kontrastierender Stilbruch oder innovatives Weiterdenken und individuelle Interpretation bestehender Strukturen – Material und Oberfläche spiegeln in gelungener Form immer die Seele des Ortes und der Nutzer wider. Dabei lässt sich natürlich über das jeweilige Gelingen trefflich streiten, denn das liegt, wie so oft, im Auge des Betrachters.
Elementary School Vřesovice / Reconstruction of Baroque Rectory
Vřesovice u Prostějova, Tschechien
Bauherr: Gemeinde Vřesovice
Planung: Jiří Markevič (Public Atelier), Jaroslav Sedlák (FUUZE)
Statik: Zdeněk Opletal, Dana Opletalová, Jiří Handl
Bebaute Fläche: 1.500 m2
Nutzfläche: 950 m2
Planungsbeginn: 2016
Bauzeit: 2018-2019
Fertigstellung: 2019
Baukosten: 1.3 MIO EURO
Fotos: BoysPlayNice
Text: Linda Pezzei
Kategorie: Kolumnen, Sonderthema