Lebende Gebäude

21. März 2020 Mehr

Einen interessanten technischen, biologischen und klimarelevanten Ansatz propagiert Prof. Ferdinand Ludwig von der Technischen Universität München (TUM). Demnach könnten Pflanzen, konstruktiv in die moderne Architektur integriert, für ein besseres Klima in den Städten sorgen. Sein Credo: „Mit der Baubotanik muss nicht extra Raum für die Pflanzen geschaffen werden. Sie sind integraler Bestandteil der Bauwerke und sorgen für Kühlung und ein besseres Klima in der Stadt.“

 

 

Dabei ist die Technik, lebende Pflanzen für konstruktive Aufgaben zu nutzen, nicht neu. Vom nordindischen Meghalaya-Plateau führen unzugängliche Täler und Schluchten in die weiten Flächen Bangladeschs. In den Monsunmonaten schwellen die Gebirgsbäche in den Wäldern zu wilden Strömen an. Um diese überwinden zu können, bauten schon die indigenen Khasi- und Jaintia-Völker ihre Brücken aus den lebenden Luftwurzeln des Gummibaums Ficus elastica.

 

 

74 solcher lebender Übergänge hat Prof. Ludwig gemeinsam mit Thomas Speck, Professor für Botanik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, analysiert: „Solche stabilen Brücken aus ineinander verschlungenen Wurzeln können mehr als 50 Meter lang und mehrere Hundert Jahre alt werden. Besprochen wurden die lebenden Meghalaya-Brücken schon viel, wissenschaftliche Untersuchungen gab es bislang allerdings wenige und das Wissen um die alten Bautechniken war kaum schriftlich dokumentiert“, so Ludwig. Deshalb führten die Forscher Interviews mit den Brückenbauern und -bauerinnen, um den Bauprozess besser zu verstehen. Und um einen Überblick über die komplexe Wurzelstruktur zu gewinnen, machten sie mehrere tausend Fotos, erstellten daraus 3D-Modelle und kartierten die Brücken erstmals.

 

 

Eine Brücke, die sich selbst baut
„Üblicherweise beginnt der Bauprozess mit einer Pflanzung: Wer eine Brücke plant, pflanzt einen Setzling des Ficus elastica an einem Flussufer oder am Rand einer Schlucht ein. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Wachstums entwickelt die Pflanze Luftwurzeln“, erklärt Speck. Die Luftwurzeln werden dann um eine Hilfskonstruktion aus Bambusstangen oder Palmenstämmen geschlungen und horizontal über den Fluss geleitet. Wenn die Wurzeln bis ans andere Ufer gewachsen sind, werden sie dort eingepflanzt. Sie entwickeln kleinere Tochterwurzeln, die ebenfalls an das Ufer gelenkt werden, wo sie eingepflanzt wurden. Durch das stetige Pflanzenwachstum und verschiedene Schlingtechniken bilden die Wurzeln des Ficus elastica hochkomplexe Strukturen, die den Brücken eine große mechanische Stabilität verleihen. Immer wieder werden die neu wachsenden Wurzeln in die bereits bestehende Struktur eingearbeitet. Gebaut und instandgehalten werden die Brücken von Einzelpersonen, Familien oder auch mehreren Dorfgemeinschaften. Bis eine lebende Brücke aus Ficus elastica fertig ist, vergehen jedoch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte. An ihrem Bau beteiligen sich oftmals mehrere Generationen.

„Die Brücken sind ein einmaliges Beispiel für vorausschauendes Bauen. Davon können wir viel lernen: Wir stehen heute vor Umweltproblemen, die nicht nur uns, sondern vor allem nachfolgende Generationen betreffen. Die Erkenntnisse über die alten Techniken der indigenen Völker könnten dabei helfen, die moderne Architektur weiterzuentwickeln, sagt Ludwig, der selbst Architekt ist. In sein Planen und Bauen bezieht er Pflanzen bereits als lebende Baustoffe mit ein. 2007 begründete er mit diesem Ansatz ein neues Forschungsgebiet: Die Baubotanik.

 

 

Fotos: TUM / Ferdinand Ludwig

 

Kategorie: Kolumnen, Sonderthema