Microliving – more or less
Steigende Grundstückspreise und Wohnungsmieten, eine zunehmende Individualisierung der Gesellschaft und die Explosion an Single-Haushalten verlangen nach neuen Wohnformen. Flexibel, smart und leistbar soll er sein, der Trend des sogenannten „Microliving“. Aber ist weniger wirklich mehr und welche Chancen kann ein so radikales Umdenken bei allen Herausforderungen eröffnen? Einige Beispiele machen es vor.
Gerade in den Städten stellen Single-Haushalte schon heute die Mehrzahl aller Haushalte dar. Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Lebensstile und -entwürfe hat mit den Konzepten des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr viel zu tun – indessen hat sich beim Wohnungsangebot bis dato, bis auf wenige Ausnahmen, kaum etwas getan. Einer regelrechten Explosion der Ein- und Zweipersonenhaushalte stehen Wohnformen gegenüber, die immer weniger mit dem Leben zu tun haben, das darin tatsächlich stattfindet. Dazu kommen steigende Mieten und Wohnungsnot aufgrund des weiterhin ungebremsten Zuzugs in die Metropolen.
Das Konzept Microliving
Eine Antwort auf diese Herausforderung ist das Konzept des sogenannten “Microliving”. Darunter lassen sich Wohnkonzepte verstehen, die aus kompakten Kleinwohnungen bestehen, ergänzt um eine geteilte Infrastruktur bis hin zu Gemeinschaftsräumen. Neben einer entsprechend durchdachten räumlichen Gestaltung ist gerade die sorgfältige Einbettung in ein funktionierendes infrastrukturelles und soziales Netzwerk von immenser Bedeutung. Denn wer die private Wohnfläche radikal reduzieren und dies gleichzeitig als Mehrwert erleben möchte, braucht andernorts Freiräume zur persönlichen Entfaltung.
Per Definition handelt es sich bei solchen Mikro-Apartments um in sich geschlossene, sehr kleine Einzimmerwohnungen mit 14 bis 32 Quadratmetern Platz für Wohn- und Schlafraum, Bad und eine Küchenzeile. Gerade in den dichtbesiedelten, urbanen Zentren Europas, Japans, Hongkongs und Nordamerikas kann man hier einen regelrechten Boom verzeichnen. Auch, weil sich die Gewinne für Bauherren und Vermieter bei stetig steigenden Grundstückspreisen und Baukosten auf diese Weise maximieren lassen. Die Mieter entscheiden sich indes meist aufgrund der relativ preisgünstigen Unterkunft für diese Wohnform. Dabei ist das Microliving keine neue Erfindung. Ähnliche Konzepte existieren bereits seit geraumer Zeit – wie beispielsweise der Nakagin Capsule Tower in Tokio von Kisho Kurokawa. Schon 1972 zogen die ersten Bewohner in die kleinen, ursprünglich portablen Wohnkapseln ein. Als Vorläufer der heutigen Mikroapartments gelten außerdem die Apartment-Hotels, die ursprünglich für längere Geschäftsreisen gedacht waren.
Soziologische Entwicklungen und kollektive Wohn-Trends sind gleichzeitig immer auch Anlass für Architekten und Hersteller, über neue, innovative und gut gestaltete Lösungen nachzudenken. So entscheiden sich mittlerweile immer mehr Mieter, losgelöst von der finanziellen Frage, aufgrund des flexiblen Designs und positiven, ökologischen Aspekten bewusst für das Leben auf kleinstem Raum.
Fotos: Hawa Sliding Solutions
Smarte Schiebeelemente
Hawa Sliding Solutions kann auf mehr als 50 Jahre Erfahrung zurückblicken, wenn es um technische Lösungen für das Schieben von Elementen in Raum und Einrichtung geht. Seit zehn Jahren schreibt das Unternehmen in diesem Zusammenhang einen Student Award aus. 2020 ging es für die Teilnehmer darum, unter dem Motto “Alleine zusammenwohnen” Lösungen für Kleinwohnungen und Gemeinschaftsräume auf dem Areal des Fernbusbahnhofs in der Mitte Zürichs zu entwickeln. Das Szenario basierte auf der Annahme, dass sich vor allem in urbanen Gebieten die privat genutzte Wohnfläche künftig stark reduzieren wird. Vieles, was sich heute innerhalb der eigenen vier Wände befindet, wird sich in gemeinschaftliche Bereiche verlagern – so die Voraussagen. Eine Möglichkeit, die private Wohnfläche auf ein Minimum zu reduzieren, ohne dabei an räumlicher Qualität zu verlieren, besteht in dem smarten Einsatz von Schiebeelementen, die auf unkomplizierte und schnelle Weise immer wieder einen neuen “Raum im Raum” schaffen können.
Fotos: Bumblebee
Raum für das, was zählt
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt bumblebee. Die Kreativschmiede aus San Francisco denkt Räume bewusst dreidimensional. Modulare und flexible Möbel sollen dabei helfen, den vorhandenen Platz effizienter zu nutzen. Bett und Stauraum verschwinden in der Decke und das Schlafzimmer wird zum videocalltauglichen Homeoffice oder großzügigen Yogaraum. Alles hat seinen Zweck und Platz zu schaffen muss nicht zwangsläufig mit Kompromissen einhergehen. Faltbett und Wandschrank next level könnte man sagen. Dazu gibt es natürlich eine eigene App: Damit lässt sich jede Adaption im Raum virtuell im Voraus programmieren und robotergesteuert per Siri justieren. Diese Lösung eignet sich vor allem für bestehende Altbauten mit hohen Räumen, aber auch für Neubauprojekte – wie „The Smile“ von BIG – Bjarke Ingels Group beweist. Das gemischt genutzte Wohnprojekt bietet inmitten des New Yorker Szeneviertels Harlem erschwingliche Mietwohnungen zum Marktpreis. Die kleinsten davon wurden mit dem modularen Möbelsystem von bumblebee gestaltet.
Fotos: Texture on Texture
Zusammen ist man weniger allein
“LIFE Co-Living Space” ist ein 16-stöckiges Gebäude im dichtbesiedelten Seoul, das jungen Erwachsenen 140 private Mikrostudios sowie gemeinschaftlich genutzte Bereiche bietet. Während jede der 16 bis 23 Quadratmeter umfassenden Wohneinheiten mit Küche und Bad ausgestattet ist, laden eine Gemeinschaftsküche, ein Arbeitsbereich, eine Lounge, ein Fitnessstudio und der Dachgarten zur sozialen Interaktion der Bewohner ein. Das Ziel von Innenarchitekt Ian Lee und Auftraggeber Fastfive bestand darin, ein Gefühl von Zuhause zu schaffen. Das Projekt ist aber auch das Ergebnis der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen gestalteter Fläche und Raum für persönliche Gestaltung. Die Designelemente stehen dementsprechend nicht im Mittelpunkt, sondern bilden lediglich eine ruhige Kulisse für die Mieter und deren Habseligkeiten. Ein Maximum an Stauraum, flexible Einbauten, gepolsterte Sitzecken sowie lichtdurchlässige Elemente aus Riffelglas lassen viel individuellen Spielraum. Positiver Nebeneffekt: Kleinstwohnungen erfordern einen bewussteren Konsum.
Fotos: Francesca Perani
Eine urbane Hütte
Im Zentrum der Stadt Albino im italienischen Bergamo entwarf Francesca Perani ein nur 25 Quadratmeter kleines Mikroapartment für ein ortsansässiges Paar italienischer und persischer Herkunft. In diesem Zuge gestaltete die Architektin und Designerin eine offene Veranda, die früher als Lagerraum genutzt wurde, mit viel Ironie und Leichtigkeit um. Mit der Absicht, die saisonalen Nutzungsmöglichkeiten zu erweitern sowie neue zuzulassen, wurde die Hütte so konzipiert, dass sie ein Gefühl von Ruhe und Intimität im Einklang mit der umgebenden Natur vermittelt und gleichzeitig Privatsphäre gegenüber dem dicht besiedelten Stadtgebiet bietet. Die äußere Form wurde dabei unverändert beibehalten, lediglich eine „zweite Haut” in Form eines frei gefalteten, perforierten Metallgitters vorgelagert. Die extreme Enge des Bestandes bedingte einen vollständig maßgeschneiderten Innenausbau, bei dem Flexibilität und Mehrfachnutzung sowie kostengünstige Materialien zu Schlüsselfaktoren wurden. Im Ergebnis verschmelzen eine kühne, zeitgenössische Architektur und iranische Kultur miteinander und sorgen für ein beruhigendes Gefühl von Intimität und Wärme.
Fotos: Studio Flusser
Drei in einem
Das Briefing: eine schier unmögliche Aufgabe. Die Antwort: ein radikales Konzept. Die Architekten NEUHÄUSL HUNAL sollten in Prag eine Küche, ein Esszimmer und ein Wohnzimmer gestalten – auf gerade einmal 20 Quadratmetern Fläche. Die einzige Möglichkeit: absoluter Minimalismus und ein einziges Möbelstück in Form eines kompakten Blocks. Eine komplette Küche mit Kaffeemaschine, Kühlschrank, Esstisch, Stühlen, Sofa, Projektor, Fußstützen, Couchtischen, Beleuchtung, Stauraum sind darin enthalten. Ebenso die Türen, die in den privaten Teil der Wohnung führen. Das eingefügte Volumen fungiert als neutraler Hintergrund und gleichzeitig als “Schweizer Taschenmesser”. Charakter und Atmosphäre des Raumes werden durch die aktuelle Nutzung definiert. Wenn eine bestimmte Aktivität nicht stattfindet, bleibt sie verborgen und nimmt den ohnehin kleinen Raum nicht unnötig in Anspruch. Helle, glatte Oberflächen maximieren den freien Raum. Die leeren Volumen von Küche und Sofa stehen in bewusstem Kontrast zueinander. Die leere Wand dient zusätzlich als Projektionsfläche.
Fotos: Ståle Eriksen
Microliving im 21. Jahrhundert
Das sich in London befindende Renovierungsprojekt “Shoji Apartment” ist eine Studie von Proctor & Shaw Architects über Materialität, Transparenz und Zurückgezogenheit. Es wurde als Prototyp für Kleinstwohnungen in bestehenden Wohngebäuden mit räumlich begrenzten Innenräumen, aber traditionell großzügigen Deckenhöhen konzipiert. Heruntergekommene und ungemütliche Zellenräume werden in diesem Zuge durch einen großzügigen, multifunktionalen Wohnraum ersetzt, der eine lichtdurchlässige, von traditionellen japanischen Shoji-Schirmen inspirierte Schlafkabine umgibt. Durch die geschickte Stapelung von Einheiten in einem einzigen hohen Volumen wird ein zusätzlicher Innenbereich geschaffen, der auf nur 29 Quadratmetern ein echtes Gefühl von Luxus und Designqualität vermittelt. Der Entwurf liegt unter den 37 Quadratmetern, die in den aktuellen technischen Wohnstandards genannt werden, und stellt damit erfolgreich die Weisheit der Mindestflächenstandards als unveränderlichen Maßstab für Qualität in Frage.
Ob Alt- oder Neubau – all diese Beispiele zeigen, dass bei geschickter Adaption oder Planung, Wohnen auch in den Zentren heutiger Metropolen gleichzeitig leistbar und qualitativ hochwertig sein kann. In Zukunft gilt es einmal mehr, vorhandenen Raum effizienter zu nutzen. Kleiner zu bauen, kann Mietpreise senken, den Verbrauch von Materialressourcen (und Abfall) verringern und Innovationen im Design fördern – vom geschaffenen Raum bis hin zur Ausstattung und Einrichtung. Neue Technologien und sich verändernde soziale Muster ermöglichen ein kompakteres Leben, digitale Technologien lassen den Arbeitsplatz in einer Tasche Platz finden. Der Aufschwung der Sharing Economy fördert eine Form von Effizienz, die auch unseren Bedarf an privatem physischem Raum verringern kann. Im gleichen Ausmaß wird unser Bewusstsein für die ästhetischen und wohltuenden Vorteile von „weniger ist mehr” wachsen.
Text: Linda Pezzei
Kategorie: Kolumnen, Projekte, Sonderthema