Plastik ist das neue Gold

15. November 2023 Mehr

Plastik genießt in unserer Gesellschaft nicht gerade den besten Ruf. Vor allem wenn es um das Thema Nachhaltigkeit geht, gilt das Material – im Gegensatz zu Holz, Baumwolle oder anderen biologisch abbaubaren Stoffen – als schwarzes Schaf. Dass Kunststoffe mehr als nur ein Abfallprodukt sein können und jede Menge Potenzial bieten, erkannten Marten van Middelkoop und Joost Dingemans. Die beiden Niederländer verwandeln mit ihrem Unternehmen Plasticiet recyceltes Plastik in neue Materialien mit ästhetischer Terrazzo-Optik und wollen damit Maßstäbe im Interior Design setzen.

 


© Jos Kottmann

 

Gründungsidee made in India

Marten und Joost studierten beide Produktdesign an der Willem de Kooning Academie, der Kunstakademie in Rotterdam. Den Grundstein für das Projekt ­Plasticiet legte eine Exkursion nach Mumbai 2016. Damals reisten die Freunde in die Metropole und tauchten dort in die indische Kunststoffindustrie ein. Anstatt in den Plastikabfällen der Stadt nur ein Ausschussprodukt zu sehen, verwenden die Menschen vor Ort diese als lokale Ressource weiter und entwickelten daraus einen aufstrebenden Wirtschaftszweig.

Diese Praxis weckte die Neugier der Zwei und veranlasste sie dazu, das Material mit anderen Augen zu sehen. Zurück zuhause nahmen sich Marten und Joost den innovativen Ansatz aus Indien zum Vorbild und begannen, die Eigenschaften von Kunststoff sowie dessen Möglichkeiten und Grenzen auf eigene Faust auszuloten. Was folgte, waren – aus gesundheitlicher Sicht höchstwahrscheinlich wenig empfehlenswerte – Experimente im heimischen Backofen und Toaster. In zahlreichen Tests schmolzen die Freunde Plastikabfälle ein und erforschten unkonventionelle Methoden, um aus dem Material neue Dinge zu erschaffen und dieses weiterzunutzen. In dem Stoff fanden sie, wie sie selbst erzählen, ihre „kreative Muse“.

 


Im Shop des Tower Art Museum, im italienischen Matera (IT), verwendete man Rhinestone 2.0-Paneele für Einbauten wie Präsentationstische, Regale und den Verkaufstresen. © Duet Studio

 

Plasticiet – Mission abfallfreie Welt

2018 erfolgte schließlich die Gründung von Plasticiet. Mit dem Start-up machten es sich die beiden zum Ziel, ihren Beitrag zu einer Welt ohne Abfall zu leisten. Inspiriert von der Natur und langlebigen, mineralischen Stoffen wie Stein, entwickelt das Team aus alten Kunststoffen neue Materialien. Im Sinne des Cradle-to-Cradle-Prinzips tragen die Produkte der jungen Firma dazu bei, den Lebenszyklus des schwer abbaubaren Materials zu verlängern. Es soll in den Kreislauf zurückgeführt und damit zukunftsfähig gemacht werden.

Als Grundlage für die Herstellung der langlebigen Kreationen dienen nicht nur einfacher Haushaltsmüll, sondern auch Produktionsabfälle oder skurrilere Dinge wie Kühlschränke und alte Formen aus Schokoladenfabriken. Neben vielseitig einsetzbaren Werkstoffplatten produzierte das Label daraus bereits ganze Möbelkollektionen – allesamt zu 100 % recycelt. Das Endergebnis hat – bis auf die Farbe des Ausgangsmaterials – meist nicht mehr viel mit Plastikflaschen und Co. gemeinsam, sondern erinnert vielmehr an ästhetische Terrazzo- und edle Marmoroberflächen. Je nach Verfügbarkeit verändert sich auch die Optik der Polystyrol- und Polycarbonat-Paneele leicht. Dadurch wird jedes von ihnen zum Unikat. Zum Einsatz kommen die Platten beispielsweise als Wandverkleidung oder Arbeitsfläche. Auch für Einbauten und andere Einrichtungsgegenstände eignet sich das kunststoffbasierte Material.

 


Ace & Tate Shop, Antwerpen (BE), maßgeschneiderte Rhinestone-Version © Alex Wiedemuth

 

Von der Deponie zum Designerstück

Der Sitz von Plasticiet befindet sich in Schiedam, vor den Toren Rotterdams. Derzeit bietet die Brand fünf verschiedene Designs auf ihrer Website an: Ivory, Blizzard und Black Rock passen mit weiß-beigen Elfenbein-Schattierungen, schlichtem Weiß mit dunkeln Farbsprenkeln und hellen Partikeln auf schwarzem Untergrund perfekt in jedes minimalistische Interieur. Wer es bunter mag, wählt Rhinestone mit seinen kräftigen Akzenten oder entscheidet sich für Chocolate Factory und seine zarten Pastelltöne. Darüber hinaus wurden die recycelten Plastik-Produkte des Start-ups über die Jahre hinweg in zahlreichen Projekten verwendet, bei denen man mit Designern, Architekten, Künstlern und Marken zusammenarbeitete.

 


Die dreiteilige Möbelkollektion Mother of Pearl besteht aus dem gleichnamigen Material, welches mit seiner glänzenden Oberfläche an schimmerndes Perlmutt erinnert. © Joost Dingemans & Marten van Middelkoop

 

So findet sich das recycelte Material z.B. im Innenausbau des süditalienischen Tower Art Museum (TAM) oder des Ace & Tate-Shops in Antwerpen wieder. 2020 launchte das junge Unternehmen außerdem seine erste eigene Möbelkollektion mit dem Titel Mother of Pearl. Anders als bei den terrazzoartigen Werkstoffplatten machte sich das niederländische Designteam hier die Plastizität des Kunststoffs zunutze und verlieh ihm durch Dehnen und Falten eine glänzende, perlmuttähnliche Oberfläche. Daraus fertigte man anschließend Platten und Blöcke, aus denen dann eine exklusive Serie mit drei Objekten wurde: ein Stuhl, ein Hocker und ein Regal.

 


© Joost Dingemans & Marten van Middelkoop

 

3 Fragen an Marten van Middelkoop und Joost Dingemans

Wie würdet ihr die Philosophie  von Plasticiet beschreiben?

Unser Ziel ist es, Plastik als Rohstoff anzuerkennen, aus dem man neue Dinge erschaffen kann. Wir betrachten das Material als Teil eines natürlichen Kreislaufs. Der Name Plasticiet soll dies verkörpern. Er steht für die postmoderne Zeit, in der wir leben: das Zeitalter des Kunststoffs. Wir Menschen haben mit Plastik eine neue Ressource geschaffen. Deshalb liegt es auch in unserer Verantwortung, diese kreislauffähig zu machen – wie das bei Naturwerkstoffen wie Stein und anderen automatisch der Fall ist. Es ist längst überfällig, Kunststoff als wertvolles Material mit vielseitigen Möglichkeiten anzuerkennen, anstatt es als Teil unserer Wegwerfgesellschaft anzusehen und zu verteufeln. Nur so kann es gelingen, in Zukunft auch in einer Welt mit weniger Abfall zu leben.

Was fasziniert euch an Kunststoff besonders?

Dass er als Material eigentlich ein negativer Nebeneffekt unserer modernen Wegwerfgesellschaft ist, aber gleichzeitig die Grundlage für eine nachhaltigere Zukunft bilden kann. Wenn wir beginnen, in Plastik eine natürliche Ressource zu sehen und diese entsprechend zu nutzen, bietet es jede Menge Potenzial. Je nach Behandlung und Temperatur ist der Werkstoff entweder hart und robust oder elastisch und formbar – daraus ergeben sich viele Designmöglichkeiten. Wir lieben es, zu experimentieren und das Material so immer wieder neu zu entdecken.

 Der Fokus liegt also eher auf dem Prozess als auf dem Endprodukt?

Richtig – wir wollen nicht nur die Schönheit und Vielseitigkeit von Kunststoff zeigen, sondern generell ein Bewusstsein für nachhaltige Lebens- und Bauweisen schaffen. Anstatt auf das fertige Produkt konzentrieren wird uns in der Herstellung vielmehr auf die spätere Verwendung und die Eigenschaften, die das Material dafür erfüllen muss. Dieser Ansatz soll auch andere Designer dazu inspirieren, langlebige Dinge zu kreieren. Nur so können wir als Gesellschaft auch nachhaltiger leben.

www.plasticiet.com

 

 

Text & Interview: Edina Obermoser

Kategorie: Architekten im Gespräch, Kolumnen, Start