Die wahren architektonischen Fragestellungen beantworten – Architekt Patrick Lüth

13. Januar 2020 Mehr

Interview mit Architekt Patrick Lüth – In einer kollektiven Arbeitsweise sieht Patrick Lüth die Zukunft der Architektur. Seit 2011 leitet er dieser Haltung entsprechend das Snøhetta Studio in Innsbruck und gestaltet Gebäude mit Mehrwert.

 

Patrick Lüth Snøhetta Studio
Portrait © Thomas Schrott

 

Was ist das Prägende an der zeitgenössischen Architektur?
Das sind für mich Projekte, bei denen einer größeren Benutzergruppe ein Mehrwert ermöglicht wird. Ein gutes Beispiel ist dabei die Oper in Oslo. Das Gebäude ist eigentlich ein Opernhaus und gleichzeitig auch ein öffentlicher Platz. Es geht darum, dass Architektur etwas in einem gesellschaftlichen Diskurs bewirken kann. Es sollte Grundvoraussetzung sein, dass ein Projekt nicht nur die eigene Funktion beleuchtet, sondern auch über das Projekt hinaus gedacht wird.

Ist der Mehrwert von Gebäuden auch immer die Grundlage für die Projekte von Snøhetta?
Es geht darum, einen Mehrwert auf verschiedenen Ebenen zu schaffen. Neben einem etwaigen gesellschaftlichem Mehrwert sind unsere Powerhouse-Projekte beispielsweise CO2-positiv. Das heißt, sie sind keine Passivhäuser, die im Verbrauch relativ wenig Energie benötigen. Es sind Gebäude, die über ihren Lebenszyklus gerechnet mehr Energie produzieren als sie selbst verbrauchen können. Die gesamte graue Energie ist dabei mit eingerechnet. Welche der verschiedenen Ebenen mehr Gewichtung hat, ist dabei projektabhängig. In der Bearbeitung von unseren Projekten ist der Kontext ja immer sehr unterschiedlich. Aber dass unsere Projekte sozial und ökologisch nachhaltig sind, steht bei uns ganz weit oben auf der Agenda.

Wie geht man in Zukunft an Entwurfsaufgaben heran?
Für uns ist beim Entwurf „Co-Creation“ schon immer ein wichtiges Thema, das meiner Meinung nach künftig noch wichtiger wird. In moderierten Workshops versuchen wir, gemeinsam mit unterschiedlichen Akteuren wie Auftraggebern und anderen Stakeholdern eine gemeinsame Basis, ein gemeinsames Verständnis der Entwurfsaufgabe und der übergeordneten Fragen herzustellen, um dann aus dem jeweiligen Kontext spezifische Lösungen zu entwickeln. Auf Basis der im Workshop erarbeiteten Ideen und Ergebnisse entwickeln wir den Entwurf weiter.

In dieser Phase ist es mir wichtig, das gesamte Repertoire an Gestaltungswerkzeugen zur Verfügung zu haben, um für die spezifische Aufgabe das beste auswählen zu können. Wir haben im Büro eine große Werkstatt, einen 3D-Drucker, ein VR-Setup und auch Leute, die mit komplexen geometrischen Modellen umgehen können. Die Simultanität dieser Medien ist wahnsinnig wichtig. Es ist auch hilfreich, um unsere eigene Arbeit zu evaluieren. Die Parallelität von analog und digital ist wichtig, damit man dieser Überprüfung standhalten kann. Das Analoge brauchen wir. Durch die haptische Komponente, durch das Auseinandersetzen mit einem Material und durch das Bauen eines Modells wird nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch der Intellekt angesprochen. Im besten Fall denkt man dabei darüber nach, wieso der Entwurf so ausschaut, wie er ausschaut.

Wird das analoge Arbeiten seinen hohen Stellenwert beibehalten?
Ich bin ein Verfechter des Modells. Auch deshalb, weil es auch ein wichtiges Kommunikationswerkzeug ist. Das dürfen wir in dieser von Bildern dominierten Welt nicht aufgeben. Jedes Modell hat nämlich einen wesentlich höheren Abstraktionsgrad als zum Beispiel ein Rendering. Für Renderings muss man Entscheidungen treffen, die in einem frühen Entwurfsstadium noch überhaupt nicht relevant sind. Bei einem Modell unterhalten wir uns zuerst über Form, Geometrie, Wirkung oder auch Städtebau. Im Unterschied zum Rendering ist VR dafür auch ein dankbares Medium, weil es dabei auch möglich ist, das Modell untexturiert zu betrachten.

Steigen Sie dann bei neuen Entwurfsaufgaben vom Analogen erst nach einiger Zeit ins Digitale um oder läuft das von Anfang an parallel?
Das kommt darauf an. Grundsätzlich liegt der Unterschied darin, ob man mit dem Bauherrn etwas entwickelt oder ob es ein anonymer Wettbewerb ist. Ersteres ist uns lieber, denn wir arbeiten lieber im Dialog. Da ist es so, dass wir bei Workshops mit dem Auftraggeber unsere ersten Ideen in handgreiflichen Modellen erarbeiten. Wenn das nicht der Fall ist, starten wir meistens schon digital. Es gibt immer viele Grundlagen, die man beachten muss. Diese kann man gut digital vorbereiten. Ich muss schon zugeben, dass viel vom Entwurfsprozess digital abläuft. Die Gewichtung ist dabei sicherlich 80 Prozent digital und 20 Prozent analog, mehr ist davon nicht übrig.

 


2018 gewann Snøhetta den internationalen städtebaulichen Wettbewerb für einen neuen, gemischten Stadtteil in Budapest. Wasser prägt nicht nur die Identität des neuen Quartiers, sondern schafft auch neue Freiräume am Wasser, die auch als Retentionsflächen und für eine ökologische Wasserbewirtschaftung zur Verfügung stehen.
© Snøhetta / Filippo Bolognese

 

Was kann die Architektur-Software noch nicht?
In der Entwurfsthematik stellt sich diese Frage nicht. Denn da kann sie alles und es wird sogar überbewertet, was sie können muss. Bei der Ausführung sehe ich durch BIM viel Potenzial, aber auch viel Gefahr. Die Industrie kann dadurch einen so starken Einfluss entwickeln, dass wir Architekten in unserer Bedeutungsfreiheit sehr stark beeinträchtigt werden. Für den sozialen Wohnbau ist es hilfreich, nicht aber wenn es um innovative Lösungen geht. Die Architektur darf nicht auf der Strecke bleiben und dafür muss es flexibler werden.

Inwiefern beeinflussen digitale Gestaltungsmethoden den Entwurf?
Ich glaube, dass wir da drüber stehen. In den frühen 2000er Jahren war das wesentlich stärker, dass man versucht hat auszuprobieren, was alles mit dem Computer und den 3D-Programmen möglich ist. Jetzt verstehen wir, dass es nicht unbedingt notwendig ist, solche Geometrien zu machen. Es geht darum, die wahren architektonischen Fragestellungen zu beantworten. Dazu kommt, dass man es nicht geschafft hat, solche Geometrien wirtschaftlich zu realisieren. Die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel muss zu dem gesellschaftlichen Nutzen betrachtet werden. Man muss sich fragen: Warum mache ich das und kann ich das nicht mit einer simpleren Geometrie bewerkstelligen? Für grundlegend relevante städtebauliche Aufgaben sind diese überhaupt nicht notwendig. Wir haben ein Kulturzentrum in Saudi-Arabien mit extrem komplexen Geometrien realisiert. Der Entwurf stammt noch aus dem Jahr 2007/2008, also noch vor der Krise. Ich glaube, dass wir so etwas nicht mehr machen werden, weil sich der Diskurs verändert hat.

Würde es Snøhetta ohne die Digitalisierung geben?
Das ist eine sehr spekulative Frage, die ich nicht genau beantworten kann. Unser Weg wurde dadurch stark beeinflusst und sie ist sicher ein Teil unserer Geschichte. Aber am Anfang stand auch der Wettbewerbsgewinn für die Bibliothek in Alexandria. Dieser Entwurf wurde komplett von Hand gezeichnet. Die digitalen Mittel schaffen weitere wichtige Handwerkszeuge, die einiges erleichtern und auch ermöglichen. Aber was am Ende zählt sind die grundlegenden Ideen.

Brauchen wir in Zukunft noch konventionelle Darstellungsmethoden?
Auf jeden Fall. Vielleicht nicht alle, aber nehmen wir zum Beispiel den Grundriss. Prinzipiell erfüllt er unterschiedliche Aufgaben. Er ist ein Kommunikationswerkzeug einerseits zwischen Architekt und Auftraggeber, zwischen Auftraggeber und Käufer, zwischen Auftraggeber und Baufirma oder zwischen Architekten und Baufirma. Es ist ein sehr universelles Medium, das sich über Jahrhunderte etabliert und gut bewährt hat und das wir nicht ganz hinter uns lassen können. Man muss die unterschiedlichen Schnittstellen betrachten. Zwischen Architekt und Baufirma hat ein BIM-Modell Vorteile. Jedoch sind da noch einige Fragen ungeklärt, wie zum Beispiel Haftungsfragen. Neben den konventionellen werden sich auch zusätzliche Darstellungsmethoden, wie BIM und VR etablieren, und zwar an anderen Schnittstellen. Ganz ersetzen werden sie Grundrisse, Schnitte und Ansichten aber nicht.

Wie können sich Architektur­wettbewerbe verändern?
Ich fände es gut, wenn es auch bei Wettbewerben eine Reihe unterschiedlicher Formate gäbe, auch nicht anonymisierte Verfahren. Bei vielen Fragestellungen wäre es wesentlich besser, wenn man sich auch bereits im Wettbewerb mit dem Auftraggeber unterhalten kann. Ich habe schon oft beobachtet, dass bei anonymen Wettbewerben dem Auftraggeber schlussendlich kein Projekt uneingeschränkt gefallen hat. Zu beachten ist, dass es auch um Chemie geht. Zwischen Auftraggeber und Architekt gibt es ein persönliches Verhältnis und die Frage ist, ob beide miteinander zurechtkommen. Wenn nicht, dann gibt es oft genug danach ein Problem. Das ist uns auch schon ein paar Mal passiert. Architekturwettbewerbe sollten generell weniger Teilnehmer haben, damit man einen Dialogprozess führen kann. Dadurch wird die Qualität besser und man kann mit dem Auftraggeber gemeinsam einen Prozess entwickeln. Das ist natürlich für den Auftraggeber schwieriger, lohnt sich aber.

Wie kann man dabei die Wettbewerbsfähigkeit gewährleisten?
Ich traue den Auftraggebern zu, dass sie professionell differenzieren können.

 


Im Entwurf spielen Arbeitsmodelle bei Snøhetta eine wichtige Rolle. Im Bild: Arrangement von Arbeitsmodellen und Studien in der Ausstellung „Snøhetta Shaping – Interaction“, die im Mai und Juni 2019 in der Architekturgalerie in München zu sehen war.
©Boris Storz

 

Soll der Kontakt zwischen Auftraggeber und Architekt persönlich hergestellt werden?
Ja, der persönliche Kontakt zwischen Auftraggeber und Architekt ist sehr wichtig. Am Anfang eines Projektes muss man sich auf jeden Fall persönlich treffen. Das tut mir zwar weh, wegen dem CO2-Fußabdruck durch das Fliegen. Ich versuche aber, so viel wie möglich mit dem Zug zu fahren. Man muss sich aber physisch treffen und an einen Tisch zusammensetzen. Wenn das einmal gemacht wurde, funktioniert auch eine Videokonferenz tadellos. Aus meiner Erfahrung braucht es eine persönliche Ebene.

Braucht es diese persönliche Ebene in Zukunft auch für ein Architekturbüro in Form eines physischen Standortes?
Ein physischer Standort ist sehr wichtig, weil Leute gerne in Gruppen arbeiten und sind. Dafür braucht es einen Raum. Darüber hinaus sind die Atmosphäre des Raumes, das Licht und die Akustik wichtig für den kreativen Output. Und für die Art der Zusammenarbeit, die wir präferieren. Ich bin ein Befürworter einer möglichst kollektiven Strategie, Ideenfindung und auch Büroführung. Für mich ist die Zeit des Meisterdenkens vorbei. Mit meiner Meinung unterscheide ich mich sehr stark von anderen Architekturbüros, speziell im deutschsprachigen Raum. Aber unsere bebaute Umwelt ist so komplex, dass wir viel Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen brauchen. Meine Rolle als Leiter eines Architekturbüros ist es, diese Prozesse zu organisieren und zum Teil auch zu moderieren. Ich möchte nicht der sein, der eine Idee vorgibt. Ob andere das auch so sehen weiß ich nicht, aber für mich ist das das einzig legitime Zukunftsszenario.

Was ist für Sie ein Leitprojekt für die Zukunft?
Unser Städtebau-Projekt für das South Gate Projektin Budapest ist für mich ein zukunftsweisendes Projekt. Dabei geht es um multifunktionale Landschaften, um Resilienz und um möglichst offene und demografische Durchmischung.

Die Zukunft der Architektur/Architektur der Zukunft ist für mich …
kollektiv.

 


170 Snøhetta Mitarbeiter beim jährlichen Treffen im Dovre Nationalpark in der von Snøhetta entworfenen Tverrfjellhytta, einem Pavillon zur Rentier-Beobachtung.
© Ketil Jacobsen

 

https://snohetta.com

Interview: Alexandra Ullmann

 

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Kategorie: Architekten im Gespräch, Kolumnen