Eine Balance zwischen Oberfläche und Struktur
Ganz gleich, ob man mit dem Auto vorbeifährt und nur einen kurzen Blick darauf erhascht oder ob man zu Fuß das Riverwood Conservancy in Mississauga, Ontario besucht und lange verweilt – das „Pine Sanctuary“ (Kieferheiligtum) von Marc Fornes / THEVERYMANY ist eine aufregende architektonische Skulptur. Sie signalisiert den Eingang in den Park und stellt eine Einladung zum Verweilen dar. Etwas, das in unserer hektischen, von Zeitersparnis geprägten Welt eine Seltenheit geworden ist.
Auf einer kleinen Lichtung neben der Riverwood Park Lane, scheint ein System von Zweigen oder riesigen Farnblättern um einen zentralen Punkt zu rotieren. Es gibt nichts, vor allem keinen Baumstamm, der diese Struktur hält. Stattdessen öffnet sich ein schattiger Innenbereich. Die äußere Geometrie ist von einer Ansammlung von „Makroschuppen“ bestimmt, sie formen Raumtaschen und verwischen die Grenzen zwischen innen und außen, während sie Schatten produzieren. Diese nach unten fallenden „Makroschuppen“ lösen sich auf oder entstammen einer Art Zweig oder Ast, der wiederum in der Form eines Kreisbogens den Erdboden leicht berührt und einen Hohlraum wie in einem alten, ausgehöhlten Mammutbaum bildet.
Das Projekt ist ein Beispiel des Künstlerstudios aus dem Bereich „Structural Stripes“ – ein Bausystem, in welchem durchgehende Oberflächen von Objekten durch Konstruktion/Dekonstruktion von einzelnen, digital angefertigten Teilen geformt und zusammengesetzt werden. In diesem Fall sind sie aus einem ultradünnen Aluminiumblech
(2 mm) herausgeschnitten. Fixiert werden sie als „Bending-Active“-Struktur, die Einzelteile berühren sich an verschiedenen Linien, um die gekrümmte Oberfläche zu erzielen. „Bending-Active“ beschreibt einen Formfindungsprozess, der sich aus der elastischen Verformung von flachen Elementen ergibt. Viele der dazu existierenden Forschungsergebnisse befassen sich mit der Biegeeigenschaft von Holz. Dieses Material kann nicht gefaltet werden, dünnes Aluminium erlaubt jedoch die Schaffung hybrider Strukturen.
3.161 verschiedene Streifen sind in vier unterschiedlichen Farbtönen von Grün, einem Blau, weiß und schwarz lackiert, um die dynamische Farbgebung über die komplette Form zu generieren. Die meisten der verwendeten, gebogenen Blechstreifen sind auch mit schmalen Graten, die aus gefaltetem Blech – diesmal akzentuiert schwarz gefärbt – erzeugt wurden, verbunden. Die aufgeblätterte, doppellagige Haut erbringt einen Moiré-Effekt an Farben genauso wie Schatten und Lichtflecke am Boden. Die schwarzen Verbindungsstreifen würden Adern entsprechen. So entsteht ein mystischer Raum unter einem bewegten Schatten einer blättrigen Hülle. Das „Pine Sanctuary“ bildet einen Bereich für spontane Spiele von Kindern, genauso wie einen Ruhepol für Erwachsene unter den Bäumen des Waldes.
Alle Wahrnehmungen in dieser Welt sind subjektiv, abhängig von der Person des Betrachters. Diese Skulptur ist ein Baum, der nicht wie die üblichen Bäume ist, ein bisschen wie eine nicht ganz reale Wahrnehmung. Gerade wenn man mit dem Auto schnell vorbeifährt, nimmt man die Skulptur als zu den Kiefern des Waldes gehörig wahr, aber doch anders. Ein Bild bleibt in der Erinnerung haften, fährt mit und hinterlässt eine Irritation. Das Zeichen dieses „übernatürlichen“ Baumes mag als Baum, Blume oder gespanntes Netz gedeutet werden. Die Farben des Objektes schreien, sie sind aus der Umwelt ausgeborgt, aber übersteigert und in die Welt der Pop-Art transformiert. Ein stufiger Verlauf von blau, chartreuse und cyan vibriert unter den anderen Grün- und Blautönen. So ruft der erste Anblick dieses „Pine Sanctuary“ eine kindliche Neugier hervor: Eine einladende Hülle mit einem Maßstab, der zwischen Architektur und Natur pendelt – oder ist etwas Außerirdisches gelandet?
Das Spielerische und Mystische lädt Vorbeigehende ein, näher- und einzutreten. Einmal im Inneren wird die Neugierde mit einer einzigartigen Erfahrung von Raum und Licht belohnt. Der Mensch erfährt hier eine tiefe, ruhige und kontemplative Wertschätzung. Kein Blick, keine Stelle gleicht der anderen, alles ist einzigartig, wie eben auch in der Natur.
Fotos: ©MARC FORNES / THEVERYMANY
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