Transformer-Architektur – Freddy Mamani
Neben der Hauptstadt Boliviens La Paz ist El Alto eine der jüngsten Städte des Landes, aber bevölkerungsmäßig bereits die zweitgrößte. Sie liegt in 4.000 Meter Höhe und die Mehrheit ihrer Bewohner stammt aus ländlichen Gebieten. 75% davon bezeichnen sich als Aymara, ein indigenes Volk, welches seine Tradition von der andinen Hochkultur Tiwanaku (1580 v. Chr. bis 1172 n. Chr.) ableitet. In der kleinen Aymara-Bergarbeitersiedlung Catavi wurde 1971 Freddy Mamani Silvestre geboren und dieser ist als einer der auffallendsten Architekten in Südamerika tätig. Mit 14 Jahren nahm er eine Tätigkeit als Hilfsmaurer auf, begann dann im darauffolgenden Jahr eine Ausbildung an der technologischen Fakultät für Zivilbauten der Universidad Mayor de San Andrés (UMSA) in La Paz, und studierte anschließend Bauingenieurswesen an der Universidad Boliviana de Informática (UBI) in La Paz.
El Alto, auf einer baumlosen Hochebene (Altiplano) in einer Höhe von 4000 m gelegen, wird städtebaulich dominiert durch einfache Backsteinbauten in rot, Asphaltbänder in grau und unbefestigte Nebenstraßen in braun. Unter der inzwischen mehr als zehnjährigen Präsidentschaft von Evo Morales haben die indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, und Mamanis Architektur drückt dieses erstarkte Selbstbewusstsein in seiner Architektur und Fassadengestaltung sichtbar aus.
Freddy Mamani ist als autodidaktischer Architekt und durch seine auffälligen Bauwerke „neoandiner Architektur“ (nueva arquitectura andina) – auch genannt „Transformer-Architektur“ (arquitectura transformer) – bekannt geworden. Mittlerweile gibt es in der bolivianischen Großstadt El Alto mehr als siebzig seiner Projekte und weitere 100 in ganz Bolivien verstreut. Er ist also ein recht umtriebiger Bauschaffender. Zu sehen war ein Teil seiner Arbeiten bis Ende Februar 2019 in der Fondation Cartier pour l’art contemporain in Paris.
In den tristen Straßen der Stadt wirken die bunten Architekturen wie Landmarks, wie Markierungen für eine zukünftige Stadtplanung. Für die Häuser gibt es keine Pläne aus Papier, Mamani skizziert auf einer Wand oder gibt Anweisungen mündlich an seine Mitarbeiter weiter. Computer kennt er nicht. Im Durchschnitt kostet ein Haus 250.000 Dollar. Ohne Material. Marmor und Keramik sind wesentliche Bestandteile. Er baut Häuser für die Neureichen von El Alto und die begreifen sie auch als ihre Statussymbole, aber auch als identitätsstiftend.
In Bolivien wird dieser Typ des Hauses „Cholet“ genannt, eine Mischung aus „Chalet“ und „Cholo“, einer geringschätzigen, rassistischen Bezeichnung für die indigene Bevölkerung. In der Bevölkerung jedoch wird diese Bauweise sehr angenommen, und die aufsteigende Bürgerschicht der Aymara benutzen den Stil bereits, um sich mit ihrer eigenen Kultur und Tradition zu identifizieren. Die Cholets haben eine ganz bestimmte Struktur: Auf der Erdgeschossebene findet die kommerzielle Tätigkeit statt, Fleischer, Wäschereien, Nahrungsmittelverkauf. Der erste Stock beherbergt einen Ballsaal oder Partyraum für gesellschaftliche und familiäre Zusammenkünfte, während im zweiten Stock Wohnungen vermietet werden und der Besitzer im obersten Geschoss wohnt. Diese Architekturen in El Alto sind ein Symbol des geschäftlichen Erfolges und werden dort auch in derselben Weise wie in rein kapitalistischen Gesellschaften verstanden.
Seine Architekturen zeichnen sich durch fantasievolle Lebendigkeit und Individualität aus, mit deutlichen Anspielungen auf die Traditionen der Aymara, der größten Volksgruppe Boliviens. Die Farben ähneln denen auf Ponchos und anderen Trachten aus dem Altiplano, die Formen erinnern oft an Schmetterlinge, Schlangen oder Kondore, die in der Mythologie der Aymara eine zentrale Rolle spielen und die Ausstellung in Paris beginnt auch mit einem spektakulären Ballraum, voller glitzernder Luster und mit in oft schreienden Farben dekorierten Säulen, Verkleidungen und Paneelen.
Die Fassaden erzählen Jahrhunderte alte Traditionen und entwickeln sich aus dem formalen Vokabular der präkolumbianischen und indigenen Kunst, die Farbigkeit bezieht sich auf die Kleider und zeremoniellen Kostüme der Aymara. Mamani versucht mit seiner Architektur etwas Farbe in das Grau der Stadt zu bringen, ähnlich dem Kampf Hundertwassers gegen die Diktatur des rechten Winkels und seinem Eintreten für eine „menschengerechte“ Architektur. Und ein bisschen erinnert diese Art der Architektur auch an die Revolution und den Gleichberechtigungskampf überall auf der Welt. Die Aymara sind stolz auf „ihre“ Häuser.
Fotos:@Tatewaki Nio, Mattia Polisena
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