Wertschätzender Umgang mit Bestandsstrukturen
Mit ihrem Büro mia2 Architektur haben sich Sandra Gnigler und Gunar Wilhelm der Entwicklung von lebenswerten Räumen verschrieben. Gemeinsam entwirft und baut das Linzer Planerduo Projekte mit Fokus auf Funktionalität, Ökonomie und Atmosphäre und beschäftigt sich außerdem viel mit Bestandsstrukturen. Die Nutzung des Bestands birgt für sie großes Potenzial, aber auch jede Menge Handlungsbedarf. Sie selbst sehen sich dabei nicht nur Auftraggeber:innen, sondern der Gesellschaft gegenüber in der Pflicht. Im Interview erzählen die beiden, wie sie anhand eines wertschätzenden Umgangs mit Ressourcen versuchen, den Spagat zwischen Wirtschaftlichkeit und Qualität zu schaffen und gleichzeitig zur Weiterentwicklung der Baukultur beizutragen.
Auf Ihrer Website ist die Rede von „Weiterentwicklung von Baukultur“ – was verstehen Sie darunter genau?
Dafür gilt es zunächst den Begriff der Baukultur zu definieren: Unter Baukultur verstehen wir grundlegende Dinge, die das Alltägliche prägen. Bedingt durch räumliche und klimatische Bedingungen haben jeder Ort und jede Gesellschaft ihre eigene historische Entwicklung und unterschiedliche Ausprägungen. Anstatt übertriebener Inszenierung geht es für uns in der Architektur deshalb um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema Leben und Wohnen und ein Bewusstsein für die damit verbundenen Bedürfnisse. Diesen Parametern entsprechend gilt es dann, angemessene, gestalterische Lösungen zu finden und die Baukultur so weiterzuentwickeln. Hier sind Planer:innen mehr gefordert denn je: Industrialisierung und Technologisierung bieten ein immer breiteres Spektrum an Möglichkeiten und verleiten dazu, in eine Art „Unkultur“ zu verfallen. Dieses Phänomen ist oft bei Neubauten zu beobachten, die neben ihrer einheitlichen Erscheinung auch eine Auseinandersetzung mit dem Kontext vermissen lassen. Häufig kommt es dabei zugunsten der Quantität zu Einbußen bei der Qualität – diese Tendenz der Maßlosigkeit ist in unserer Gesellschaft stark spürbar.
Sie realisieren viele Projekte zum Thema „Bauen im Bestand“ – sehen Sie das als Architekt:innen als Ihre Verantwortung?
Wir sind da nicht dogmatisch. Generell betrachten wir den Bestand als Grundsatzthema in der Bauwelt – leider wird dabei allzu oft der Kostenfaktor als maßgebender Maßstab herangezogen. Umbauten erweisen sich in der Regel als lohnintensiver, wohingegen ein Neubau deutlich mehr Material und Energie erfordert. Wir sehen in bestehenden Strukturen viel Potenzial und legen deshalb gern unseren Fokus darauf – was aber nicht bedeutet, dass wir keine Neubauten realisieren. Bevor wir Zeit und Ressourcen in ein Bestandsprojekt stecken, überprüfen wir die Substanz zunächst auf ihren Zustand. Nur wenn sie dem Vergleich zwischen Wirtschaftlichkeit und Qualität standhält, lohnt sich der Einsatz auch.
Ein Stadthaus in Linz wurde sanft saniert und erweitert. Während sich im Erdgeschoss das Büro von mia2 Architektur befindet, entstand im oberen Teil ein Holzaufbau mit 2.5 Stockwerken. © Kurt Hörbst
Wird dem Thema Bestand genügend Beachtung geschenkt?
Die Thematik kommt zunehmend in den Diskurs, aber nicht in der Breite. Solange sich an den Rahmenbedingungen nichts ändert – das heißt, die Lohnbesteuerung so hoch und die Ressourcenbesteuerung so niedrig ist – wird auch kein Umdenken passieren. Macht man die Rechnung, erweisen sich ein Abriss und anschließender Neubau eben oft als günstiger. Selbst Gründerzeitbauten werden immer mehr abgetragen und durch raue Mengen an Wohnbauten mit niedriger Lebensqualität ersetzt. Da verwundert es wenig, dass viele weiterhin vom Einfamilienhaus mit Pool träumen. Leider geht auf diese Weise das Bewusstsein für gewachsene Strukturen und deren Qualitäten sukzessive verloren und mit ihm auch ein Stück unserer Baukultur.
Wie geht man mit bestehender/alter Bausubstanz richtig um?
Das hängt vom jeweiligen Projekt ab. Primär geht es für uns stets um die richtige Fragestellung und um das Erkennen von Problemen und Qualitäten. Im zweiten Schritt versuchen wir dann, die positiven Eigenschaften zu fördern und die Schwachstellen in Stärken umzuwandeln. Wichtig ist uns generell, die Bausubstanz nicht nur zu überdecken, sondern sie neu ertüchtigt und weiterentwickelt zum Verweis ihrer individuellen Geschichte zu machen.
Bei der Sanierung dieses Hauses verbindet eine neue große Freitreppe das bestehende Erdgeschoss mit dem Garten. © Kurt Hörbst
Wo werden dabei Ihrer Meinung nach die meisten Fehler begangen?
Einen häufig vernachlässigten Punkt stellt, denken wir, die Raumatmosphäre dar – allerdings nicht nur beim Bauen im Bestand, sondern auch bei Neubauprojekten. Die Architektur wurde im Sinne der Bautechnik, Wirtschaftlichkeit und Funktionalität immer weiter rationalisiert und dabei leider zunehmend auf andere Aspekte vergessen, die zum Teil völlig kostenunabhängig sind. Oftmals geht es nicht um Punkte wie die Wahl des Materials, sondern vielmehr um dessen Einsatz und Kombination. Dieses Bewusstsein ist sehr wichtig, denn nur damit kann es gelingen, aus einem Haus auch ein Zuhause zu machen. Letztendlich sehnt sich schließlich jeder nach Geborgenheit und Gemütlichkeit.
Worin stecken beim Umgang mit dem Bestand die größten Herausforderungen?
Die größte Herausforderung steckt wahrscheinlich in der Überzeugungsarbeit selbst. Altbestand hat häufig eine negative, problembehaftete Konnotation – obwohl es vorwiegend lediglich darum ginge, diese potenziellen Nachteile mit den richtigen Maßnahmen ins Positive umzukehren. Speziell bei „Problembestand“ tendieren viele dazu, sich abschrecken zu lassen. Gerade diese Projekte erweisen sich aber oft als die spannendsten, weil sie mehr Auseinandersetzung und neue Lösungen erfordern.
Sehen wir Potenzial in einer Substanz, ermuntern wir Bauherr:innen dieses zu erkennen. Hier gilt es unserer Meinung nach, wieder ein Grundbewusstsein und mehr Wertschätzung zu schaffen. Da sich der tatsächliche Aufwand bei Bestandssanierungen meist nur schwer abschätzen lässt, sind auch Punkte wie Budgetkalkulation besonders fordernd. Das wollen wir nicht romantisieren.
Im Inneren des Stadthauses harmonieren neue Einbauten mit den alten Strukturen. Aus überlegter Materialwahl und Liebe zum Detail ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild. © Kurt Hörbst
Lassen sich die Themen Bestand und Innovation vereinen?
Das hängt sehr von Projekt und Auftraggeber:in ab. Wir konnten beispielsweise mit dem Stadthaus in Linz an unserer eigenen Sanierung arbeiten. Dieses Bestandsprojekt diente uns als persönliches Experimentierfeld für innovative Sanierungsmethoden, bei dem wir viel Erfahrung sammeln konnten. Neben – aus dem Aushub gefertigten – Stampflehmwänden im Erdgeschoss, die nun Teile des Firsts tragen, setzten wir recycelte Geländer aus einem anderen Projekt ein und adaptierten sie in Zusammenarbeit mit einem befreundeten Schlosser. Vorhaben dieser Art halten dem ökonomischen Vergleich zwar häufig nicht stand, wo sie möglich sind, verhelfen sie jedoch zu einer viel stärkeren Identifikation mit dem Projekt und schaffen Mehrwert.
Inwiefern spielen zirkuläre Architektur und Cradle-to-cradle-Ansätze beim Bauen im Bestand eine Rolle?
Das demonstrierte uns in vielerlei Hinsicht auch das Stadthaus, wo wir die Möglichkeit hatten, bestehendes Material weiterzuverwenden. Im innerstädtischen Kontext steht man dabei oftmals beim Thema Logistik vor besonderen Herausforderungen, da Flächen zum temporären Deponieren und Lagern fehlen. So war es für uns schön zu sehen, dass selbst unsere alte Dachdeckung auf einem Stadl in Oberösterreich eine neue Verwendung fand. Das zeigt auch das enorme materialtechnische Potenzial, das selbst in nicht erhaltenswerten Bestandsstrukturen steckt. Beim Abbruch gilt es, sich die Zeit zu nehmen und – wo möglich – den Lebenszyklus von Ressourcen zu verlängern, anstatt alles wegzuwerfen.
Unter dem Titel RUNDHERUM erweitert ein umlaufender Holzbau ein Ferienhaus aus den 70er-Jahren im Mühlviertel. Die Kombination aus dem massiven Bestandskern und der neuen Ergänzung soll zwei architektonische Zeitschichten spürbar machen. © Kurt Hörbst
Wie entwirft man heute etwas, das morgen baukulturell wertvoll ist?
Am wichtigsten ist es unseres Erachtens, sich mit dem Kontext und den Nutzer:innen auseinanderzusetzen und so – sich auch verändernde – Bedürfnisse und Anforderungen zu identifizieren. Dieser Entwicklungsprozess stellt ebenfalls einen Teil unserer Baukultur dar. Grundsätzlich lassen sich hier zwei Punkte definieren: Zum einen gilt es, einen Wert zu schaffen – sei es durch Wirkung im Umfeld, qualitative Raumgefüge oder andere Maßnahmen. Der andere Fokus liegt auf der Nutzbarkeit und mit ihr wiederum auf einer strukturellen Flexibilität, welche die Grundlage für spätere Umnutzungen des Bestands bildet. Während die Tendenz immer stärker zu starren, vordefinierten Strukturen geht, vergisst man auf Langlebigkeit. Dass sich Zeiten ändern und auch die Architektur schnelllebiger wird, kann man durchaus akzeptieren. Man muss aber auch darauf reagieren – und um eine Beständigkeit der Baukultur zu garantieren, braucht es eine bessere Wandelbarkeit der Gebäude.
Was liegt Ihnen zusätzlich zum Bauen im Bestand besonders am Herzen?
Neben dem Thema Bestand ist unsere oberste Prämisse, Lebensraum zu schaffen. Als Planer:in läuft man oft Gefahr, Architekturikonen kreieren zu wollen und den eigentlichen Fokus aus den Augen zu verlieren. Das Ergebnis dieser Egoismen ist aber keine Baukultur, sondern bezugslose Architektur. Im Mittelpunkt jedes Projekts sollte die Auseinandersetzung mit dem Kontext und die Reaktion auf ihn stehen. Individuelle Bedürfnisse und örtliche Bedingungen führen nicht nur zu einer Identifikation mit dem Ort, sondern auch zu mehr Lebensqualität. Und so schließt sich für uns wieder der Kreis zur Baukultur.
Interview: Edina Obermoser
Kategorie: Architekten im Gespräch, Kolumnen