Wird ein Turm mit Hüftknick den Wiener Gasometern gerecht?
Die Wiener Gasometer blicken auf eine bewegte Geschichte zurück. Aus stadtplanerischer Perspektive löst diese jedoch bestenfalls eher gemischte Gefühle statt Begeisterung aus. Bereits in den vergangenen Jahrzehnten hat die Authentizität der vier ehemaligen Gasbehälter mit der Backsteinfassade erheblich gelitten. Heute werden weder die derzeitige Nutzung noch die umliegende Stadtgestaltung dem Bestand gerecht. Ab 2018 soll das Areal nahe den ehemaligen Gasbehältern um ein Hochhaus reicher werden.
Mithilfe eines Wohnturmes will die Stadt Wien eine bessere Verbindung zwischen 3. und 11. Wiener Gemeindebezirk herstellen. Es ist jedoch fraglich, ob dieses Ziel durch die Konstruktion eines weiteren Büro- und Geschäftsgebäudes erreicht wird. Generell lässt sich überhaupt bezweifeln, ob eine Fläche, die überwiegend von massiven Bauten und fantasieloser Freiraumgestaltung dominiert wird, einen weiteren Büroturm braucht.
Ein Wiener Wahrzeichen wird verdrängt
Am Erdberger Mais spielen die vier denkmalgeschützten Gasometer im 11. Wiener Gemeindebezirk aus architektonischer Sicht eine bedeutende Rolle. Immerhin werden diese Bauwerke von der Stadt Wien noch immer als Landmark für jenen Bezirksteil angesehen. Der Bau der Gebäude fand zwischen 1896 und 1899 statt. In Betrieb genommen wurden die ehemaligen Gasbehälter schließlich im Jahr 1899, sie dienten damals ursprünglich der Speicherung von Stadtgas. Mehr als 80 Jahre erfüllten die Bauten ihre Aufgabe als Gasspeicher. Stillgelegt wurden diese 1984, als Wien von der Nutzung von Stadt- auf Erdgas umstieg. Mitte der 1990er-Jahre plante die Stadt schließlich eine Revitalisierung der Gasometer. Doch anstatt von der außergewöhnlichen Architektur und der großen Fläche Gebrauch zu machen, wurde zu dieser Zeit der Grundstein für den erbarmungslosen Verbau des Areals gelegt. Obwohl damals unter anderem das Technische Museum nach Ausstellungsräumen suchte, entschieden sich die Verantwortlichen dafür, im Inneren der Gasometer Wohnungen zu realisieren.
Mit der Beauftragung international bekannter Namen wie Jean Nouvel und Coop Himmelb(l)au wurde zudem dafür gesorgt, dass das wenig durchdachte Konzept Prestigecharakter erhielt. Letztgenanntes Architekturbüro ist auch für die Errichtung des sogenannten Schilds – ein Anbau mit 19 Geschossen, welcher die Fassade des Gasometer B in Richtung Prater vollständig abschirmt – verantwortlich. Zusätzlich wurde neben den denkmalgeschützten Fassaden ein Einkaufszentrum mit „Pleasure Dome“ von Architekt Rüdiger Lainer errichtet. Die beiden Komplexe sind durch einen Glassteg, der die Sicht auf das Gasometer B abschirmt, miteinander verbunden. Neben dem „Urban Entertainment Center“ wurden zudem zwei stattliche Bürokomplexe realisiert, welche die städtebauliche Wirkung der backsteinernen Bauten weiter schmälern. An diese nachteilige Entwicklung droht leider auch das neueste Hochhausprojekt der Stadt Wien anzuknüpfen. Geplant ist ein weiterer gläserner Prestigeturm, welcher die Gasometer als Wahrzeichen des 11. Wiener Gemeindebezirks sowie als städtebauliche Dominante endgültig in den Hintergrund rücken dürfte. Angesichts dieser Tatsache wirkt es fast ironisch, dass der Bauträger das Projekt noch vor dessen Realisierung als zukünftiges Wahrzeichen der Stadt Wien bezeichnet. Gleichzeitig handelt es sich um sehr hochgesteckte Ziele für einen Turm, dessen Nutzung wahrscheinlich zur Gänze in privater Hand liegen wird.
Es muss ein Hochhaus sein
Um am Erdberger Mais ein weiteres Hochhaus zu errichten, schrieb die Bank Austria Immobilien GmbH (BAI) im Jahr 2013 einen Architekturwettbewerb für die Fläche von 2.400 m² vor dem Gasometer A aus. Als Gewinner ging das niederländische Büro MVRDV hervor. Gate 2 soll der zukünftige Glasturm mit einer stattlichen Höhe von 110 Meter und 30 Geschossen heißen. Der Bau desselben wird voraussichtlich 2016 in Angriff genommen und 2018/2019 abgeschlossen sein. Dabei wünscht sich der Investor eine Aussicht auf flexible Nutzung, da laut eines Kommentars des Projektleiters der BAI „niemand weiß, welchen Bedarf wir in drei, vier Jahren bei der Fertigstellung des Hochhauses haben werden“. Die Frage ist nur, von wessen Bedürfnissen hierbei die Rede ist. Bezeichnet wird das Bauwerk gemäß den Unterlagen der BAI als „hochwertiges Büro- und Geschäftsgebäude mit Umnutzungspotenzial“. Diese Definition lässt darauf schließen, dass in erster Linie die Anforderungen privater Käufer berücksichtigt werden. Von der Erfüllung eines öffentlichen Nutzens ist demnach auch der neueste Hochhausentwurf weit entfernt. Zu bemängeln ist aber nicht nur der geplante Inhalt des Gebäudes. Wer sich die Pläne des Teams MVRDV ansieht, wird feststellen, dass es sich bei dem Turm nur um ein weiteres Bauwerk handelt, welches die historische Fassade der Gasometer in den Hintergrund drängt. Seitens der Investoren findet dieser Aspekt jedoch keine Beachtung. Sowohl Bauherr als auch die Architekten von MVRDV loben vor allem die Form mit der prägnanten „schlanken Taille“ des Turmes. Chefarchitekt Winy Maas spricht hier sogar von einer „klassischen Definition von Schönheit“. In Wahrheit handelt es sich bei der Verschmälerung weniger um einen kreativen Stilbruch, als vielmehr um eine Anpassung an die derzeitige Gesetzeslage. Der Hüftknick des Bauwerkes soll nämlich sicherstellen, dass umliegende Gebäude nur für maximal zwei Stunden am Tag beschattet werden. Das recht außergewöhnliche Aussehen des Hochhauses ist somit als Antwort auf die Wiener Bebauungsvorschrift zu verstehen.
Es überrascht jedoch nicht, dass die Errichtung eines weiteren Hochhauses das Ziel des Bauträgers BAI darstellt. Der Investor hat sich bereits in der Vergangenheit mit der Entwicklung massiver Bauprojekte einen Namen gemacht. Erst 2011 sorgte das im 3. Wiener Gemeindebezirk eröffnete Einkaufszentrum „The Mall“ für negative Schlagzeilen. Ohne Rücksicht auf den Bestand wurde damals in unmittelbarer Nähe zum historischen Stadtkern ein Glaspanzer errichtet.
Bauboom auf Kosten des öffentlichen Raumes
Woran es der Grenzregion zwischen 3. und 11. Wiener Gemeindebezirk derzeit am meisten mangelt, ist eine einladende Gestaltung des Außenraumes. Trotz der Beliebtheit des Areals bei Architekten und Investoren ist außerhalb der Gebäude von einer Aufenthaltsqualität noch nichts zu spüren. Auf Grünflächen müssen die Bewohner der Gasometer City weitgehend verzichten. Auch windstille Plätze mit geschützten Sitzgelegenheiten dürften die Bewohner derzeit vergebens suchen. Die einzige naturnahe Erholungsmöglichkeit stellt derzeit der Wiener Prater dar. Allerdings ist dieser vom angepriesenen Wohngebiet durch den Donaukanal, die Ostautobahn, die Erdberger Lände sowie die U-Bahn-Remise Erdberg getrennt. Mit der aktuellen baulichen Entwicklung droht der Bereich um das Erdberger Mais einen ähnlichen Zyklus wie die Donauplatte im 22. Wiener Gemeindebezirk zu durchlaufen. Das Ergebnis wäre eine Abstellfläche für sämtliche Investitionsprojekte der Stadt Wien – ein sehr unrühmliches Ende für den Standort eines Wahrzeichens wie den Wiener Gasometern.
Text: Dolores Stuttner Fotos: Dolores Stuttner, MVRDV, Peter Reischer
Kategorie: Architekturszene, Kolumnen