Zwischen Brauchtum und Innovation
Zum ersten Mal ist es in Österreich möglich, Einblicke in die Arbeit der mexikanischen Architektin Tatiana Bilbao zu erhalten. Ihrer Person und Bauphilosophie widmet das Architekturzentrum Wien noch bis 07. Februar 2022 eine Ausstellung – diese stellt die wichtigsten Bauten, aber auch die innovativen Ansätze der Expertin in den Fokus.
Sozialer Wohnbau in Acuña, Mexiko, 2015
© Iwan Baan
Mit ihrem Architekturbüro Tatiana Bilbao Estudio, erforscht die Planerin die Bautraditionen in Mexiko, wobei sie ihre Projekte stets in den historischen Kontext stellt. Einen Einfluss auf die Arbeit des Büros nehmen des Weiteren die verschiedenen Dimensionen der „Landschaft“ vor Ort – sowohl natürliche als auch städtische sowie soziale Gegebenheiten fließen in die Entwürfe mit ein. Die Architektin liefert mit ihren Ideen für eine integrative Bauplanung, Antworten auf viele Herausforderungen der heutigen Zeit. Die einzigartige Herangehensweise Tatiana Bilbaos an die Architektur zeigt auf, wie sich diversifizierte und sozial sensible Lebensräume auf einer begrenzten Fläche realisieren lassen. Sie berücksichtigt die unterschiedlichen Bevölkerungs- und Einkommensgruppen und entwirft Siedlungen und Gebäude, die einer Vielzahl an Bedürfnissen gerecht werden.
Leistbares Wohnen “Housing +”, Chiapas, Mexiko, 2013 – 2015
© Tatiana Bilbao Estudio
Eine soziale, interdisziplinäre Herangehensweise
Das Werk Tatiana Bilbaos ist vor allem eines: vielschichtig und breit gefächert. Dieser Aspekt ist nicht zuletzt der disziplinübergreifenden Arbeitsweise der Architektin zu verdanken. So arbeitet sie bei der Umsetzung ihrer Entwürfe häufig nicht nur mit anderen Architekten sowie Künstlern, sondern gleichermaßen mit der Bevölkerung vor Ort zusammen. Vor der Realisierung eines Projekts erfolgt stets die Analyse der Landschaft und der sozialen Bedingungen. Dies war auch bei der Planung des sozialen Wohnbaus in Acuna der Fall. Die 2015 errichtete Siedlung verfügt über 16 Wohneinheiten von jeweils 52 m2 und einer öffentlichen Fläche von 27.000 m2. Bilbao wollte mit diesem Projekt nicht nur Wohnraum schaffen, sondern gleichermaßen „Schönheit“ in die Umgebung der Bewohner integrieren. Gemäß der Meinung der Planerin, müssen weniger privilegierte Menschen oft auf einen visuell ansprechenden Lebensraum verzichten – die Architektin will daher aufzeigen, dass der soziale Wohnbau ebenfalls schön sein kann. Und mit der Siedlung in Acuna ist ihr dies gelungen.
Tatiana Bilbao ist sich außerdem darüber im Klaren, dass es für die breite Bevölkerung generell schwer ist, Schnitte und Grundrisse von Gebäuden richtig zu lesen. Damit auch Laien ihre Konzepte verstehen, entwickelte sie kreative Ansätze für die visuelle Darstellung ihrer Projekte. Sie nutzte zur Kommunikation mit der Bevölkerung, aber auch mit den Projektpartnern schon früh handgezeichnete Skizzen und Collagen. Gleichzeitig verzichtete sie auf „Renderings“ – also realitätsnahe, digitale Visualisierungen. Aus Sicht der Planerin behindern diese einerseits den kreativen Prozess und bringen andererseits die Projektentwicklung zum Stillstand, da sie die Vorstellungskraft unterbinden. Der zum Teil verspielte Ansatz ermöglicht es also, viele Personengruppen – Experten und Laien – in die Projektentwicklung zu integrieren, um so eine ganzheitliche Planung zu gewährleisten.
Nachverdichtung „Territorio de Gigantes“, Aguascalientes, Mexiko, 2013 – 2018
© Rodrigo Chapa
Tradition als Inspiration und Wegweiser
Neben dem sozialen Aspekt, haben lokale Kunst-, Bau- und Kulturtraditionen bei Tatiana Bilbao einen hohen Stellenwert. Mit ihrer Architektur schafft sie eine Plattform, auf der jeder Bewohner seine eigene Existenz aufbauen kann. Es geht der Planerin hier außerdem um den sparsamen Umgang mit Ressourcen. „Ich komme aus einem Land, in dem vielen Menschen nur wenige wirtschaftliche Mittel zur Verfügung stehen – ich bin es deshalb gewohnt, nachhaltig zu arbeiten“, so die Architektin.
Tatiana Bilbao widmet sich aber nicht nur der Errichtung einzelner Gebäude, sondern sie hat sich auch im Städtebau einen Namen gemacht. In diesem Kontext ist unter anderem die urbane Nachverdichtung in Apodaca zu erwähnen. Die Realisierung des Projekts erfolgte im Jahr 2017, wobei die Brachflächen der Stadt mit einer Mischung aus Wohnbauten und Gewerbe gefüllt wurden. Auf dem Areal dominiert eine kleinteilige und mehrgeschossige Bebauung, die sich geradezu spielerisch in den Ort einfügt. Der Lebensraum in den Wohnhäusern erstreckt sich über vier Stockwerke, während die Dachflächen allen Bewohnern als öffentlicher Raum zur Verfügung stehen. Trotzdem weist jedes Haus einen anderen Schnitt und eine andere Grundfläche auf, wodurch der Stadtteil Familien mit unterschiedlichem ökonomischem Hintergrund offen steht. Die Eingänge gemeinschaftlich und kommerziell genutzter Bereiche sind von denen der Wohnbauten getrennt, was die Privatsphäre der Bewohner wahrt.
Wohnblöcke für Menschen unterschiedlicher Einkommensklassen realisierte Tatiana Bilbao zudem bei der Umsetzung des Masterplans „Territorio de Gigantes“ im mexikanisches Aguascalientes. Letztere gilt als sauberste Stadt in Lateinamerika, mit einer gleichermaßen hohen Lebens- und Wohnqualität. Aufgrund ihrer starken kulturellen Tradition ist sie außerdem ein bekannter Touristenmagnet im Hinterland Mexikos. Im Rahmen des Projekts musste sich die Architektin den komplexen Anforderungen der lokalen, urbanen und regionalen Planung stellen. Es war ihr möglich, das Areal mit der dringend benötigten technischen und sozialen Infrastruktur auszustatten. Als Herausforderung erwies sich hier die Größe des Stadtteils – dieser nimmt immerhin 15 Prozent der Fläche von Aguascalientes ein. Es galt hier, eine stimmige Ergänzung zur bereits vorhandenen, umliegenden Bebauung zu schaffen und zugleich den Anforderungen der zukünftigen Bewohner gerecht zu werden.
Herzstück des Projekts sind daher zweifelsohne die farbenfrohen, kompakten Wohnblöcke. Alle Wohnungen sind mit zwei Schlafzimmern ausgestattet, wobei einzelne Appartments um einen dritten Schlafraum erweiterbar sind. Es orientiert sich also auch dieser, auf Flexibilität ausgelegte Entwurf Bilbaos an den Bedürfnissen der Menschen – der Bevölkerung wird bei einem sparsamen Umgang mit Fläche ausreichend Raum zur Selbstverwirklichung bereitgestellt.
Aquarium und Meeresforschungszentrum Cortes, Mazatlán, Sinaloa, Mexiko
© Tatiana Bilbao Estudio
Öffentliche Bauten als lebendiger Organismus
Einfühlsam ist der Ansatz der Planerin nicht nur dann, wenn es um die Gestaltung von Wohnräumen geht. Auch beim Entwurf für das Aquarium und Meeresforschungszentrum Cortes, in Mazatlan, bewies Tatiana Bilbao Umsichtigkeit. Das Projekt ist im zentralen Park des Ortes gelegen, wobei es auf einer Fläche von 13.000 m2 als verbindendes Element zwischen dem umliegenden öffentlichen Raum, den Grünflächen und der Kulturlandschaft fungiert.
Dabei war es das Bestreben der Expertin, die im Aquarium auf drei Ebenen dargestellte Meereslandschaft von Cortes mithilfe der Architektur optimal zur Geltung zu bringen. Das Bauwerk nimmt so die Funktion eines Bilderrahmens ein, der die wichtigsten Aspekte der Exhibition unterstreicht. Der Mensch steht als Besucher im Mittelpunkt. Da die Architektur gezielt Akzente setzt, wird ihm ein einzigartiger Einblick in eine andere Welt gewährt.
Kennzeichnend für das Gebäude werden aber nicht nur die Meeresbewohner im Inneren, sondern gleichermaßen die lebendige Außenhülle sein. Begrünte Bereiche an Fassaden und Dächern sollen den Bau mit seiner linearen Struktur zum Leben erwecken. Bewusst ist die lockere Anbringung der Bepflanzung an den rotbraunen Wänden vorgesehen. Von dort aus, kann sich das Grün dann ausbreiten, wodurch der Außenbereich zu einem eigenen Organismus wird, der sich nahtlos in den umliegenden Park einfügt. Die Planung des Projekts wurde mit 2019 abgeschlossen – derzeit befindet sich das Aquarium und Meeresforschungszentrum in der Bauphase.
Geht es um die Kombination von Innovation, Tradition und der sozialen Integration in der Bauplanung, ist Tatiana Bilbao Vorreiterin. Sie zeigt auf, dass es selbst in einem schwierigen Kontext möglich ist, Architektur zu schaffen, die sich am Menschen orientiert und mit ihm die Geschichte eines Areals neu aufleben lässt.
Domesticity, Collage
© Tatiana Bilbao Estudio
Text: Dolores Stuttner
Kategorie: Architekturszene, Kolumnen