Atmungsaktive Architektur
Das Architekturbüro Skidmore, Owings & Merrill (SOM) realisierte in der chinesischen Millionenstadt Shenzhen ein „atmendes“ Hochhaus mit natürlicher Belüftung. Für die neuen Headquarters der Rural Commercial Bank entwarfen sie eine Struktur aus sich diagonal kreuzenden Trägern. Diese verleihen dem Gebäude nicht nur ihr markantes Aussehen, sondern dienen zudem als gigantischer Sonnenschutz.
Wolkenkratzer sind in der Metropole im Südosten Chinas nichts Besonderes – das 158 Meter hohe Bankgebäude allerdings schon: Natürlich belüftet tanzt es aus der Reihe und zeigt, wie nachhaltiges Design in tropischen Breitengraden aussehen kann. Mit seinen 33 Stockwerken steht der Turm am Rande eines öffentlichen Parks im Geschäftsviertel von Shenzhen. Die Grünfläche steht im Zentrum des Masterplans für den Stadtbezirk. Durch seine Gestaltung soll der Neubau auf die Geschichte und die ländlichen Wurzeln der Bank sowie deren Vision für die Zukunft hinweisen und traditionelle Komponenten mit modernen Ideen verbinden.
SOM setzten auf eine simple, quadratische Grundform und kombinierten diese mit innovativer Technologie. Das Herzstück des Bankhauptsitzes ist seine charakteristische Fassade, die als Brisesoleil und Konstruktion fungiert. Wie ein Exoskelett umschließt sie den Turm mit einer engmaschigen Struktur. Diese besteht aus weißen Stahlträgern, die sich überkreuzen. Als außenliegendes Tragwerk ermöglichen sie im Inneren offene Grundrisse und eine flexible Nutzungsanpassung. Die Diagonalen sind in jedem zweiten Stockwerk über horizontale Rahmen mit dem Betonkern verbunden, der die Kräfte in den Boden abführt. Zudem schirmt das Gitter die dahinterliegende Glasfassade vor der Sonne ab, schützt vor Blendung in den Büros und reduziert den solaren Wärmeeintrag um 34 Prozent. Am Fuße des Baus weiten sich die Abstände zwischen den Rauten der Außenhülle. Sie umrahmen den Blick in den Park und markieren die Zugänge zum Gebäude.
Zwei Atrien stellen die Lunge der Rural Commercial Bank dar. Sie verlaufen zentral entlang der West- und Ostansicht über die gesamte Höhe, begleiten die offenen Treppenhäuser und teilen die Bürogeschosse als Verlängerung des Erschließungskerns in zwei gleich große Bereiche. Die beiden Schächte lassen den Headquarterbau „atmen“ und sorgen für eine kontinuierliche Luftzirkulation. Je nach Jahreszeit und Qualität kommt die Luft dafür entweder von außen oder von der internen Kühlung. Durch lamellenartige Öffnungen strömt die Frischluft in die einzelnen Etagen. Anders als in vollautomatisierten Bürotürmen können die Nutzer hier selbst zwischen mechanischer und natürlicher Belüftung wählen. Das erhöht den Komfort und spart Energiekosten. Hinter der Stahlkonstruktion bildet eine durchgängige Glasfassade den thermischen Abschluss. Sie erwies sich während des Bauprozesses als besondere Herausforderung, da die außenliegende Tragstruktur zuerst montiert werden musste. Erst dann konnte man die Vorhangkonstruktion dahinter anbringen. Die Verglasungen sind mit einem zusätzlichen Verschattungssystem ausgestattet, das auf den Lichteinfall reagiert und automatisch vor der Sonne schützt. Mit der effizienten Planung und verminderten Kühllast erfüllt der Bau sämtliche Kriterien für eine LEED Platin-Zertifizierung.
Dank der tragenden Gebäudehülle sind sämtliche Geschosse stützenfrei ausgeführt und lassen sich individuell bespielen. Die Glasfassade bietet Ausblicke nach draußen und ein angenehm helles Arbeitsumfeld. Bei der Gestaltung der Innenräume bedienten sich die Planer Elementen des Feng-Shui und verbesserten durch sie das Ambiente merklich. Wasser steht in der chinesischen Harmonielehre für Wohlstand und kommt im repräsentativen Eingangsbereich zum Einsatz. Dort fassen Pools – in denen sich das Licht spiegelt – und 15 Meter hohe Glaswände die Lobby ein. Das kühle Nass setzt sich auch in der Vertikale fort: An einem „Regenvorhang“ fließt es nach unten und benetzt die Oberfläche. Diese Wasserspiele kühlen in den heißen Monaten durch Verdunstung das gesamte Bankgebäude. Tropfenförmige Hängeleuchten greifen das Thema Wasser erneut auf. Der Erschließungskern ist in Marmor verkleidet und soll mit seiner wellenartigen Musterung an nassen Stein erinnern. Wasser- und Grünflächen sowie Sitzgelegenheiten und in Granit gepflasterte Wege prägen die Außenräume und leiten Besucher und Mitarbeiter ins Gebäude. Ein niedriger, gläserner Anbau dockt direkt an die Eingangshalle an. Er ist verglast, schimmert in edlem Bronze und verfügt über eine zweischalige Außenhaut. Im Gegensatz zum transparenten Hauptgebäude umgibt ihn ein leichter Lamellenvorhang. Dieser schafft die nötige Privatsphäre für die Räumlichkeiten des exklusiven VIP-Banking-Bereichs im Inneren. Oben auf dem Turm rundet eine Dachterrasse vor dem Panorama des geschäftigen Shenzhens und der südchinesischen See das Programm ab. Mit mobilen Trennwänden scheinen Innen- und Außenraum hier in luftiger Höhe fließend ineinander überzugehen.
Wasser, Wind, Sonne – für das Design der Shenzhen Rural Commercial Bank ließen sich die Planer von SOM, die für ihre innovativen Entwürfe bekannt sind, von der Natur inspirieren. Mit dem auffälligen Exoskelett entwickelten sie in Zusammenarbeit mit den Ingenieuren von Arup die perfekte Balance zwischen Stabilität, Sonnenschutz, Licht und Luft für das Projekt. Die weiße Gitterkonstruktion bereichert die chinesische Metropole nicht nur um ein neues Wahrzeichen, sondern ist außerdem effizient und berücksichtigt das Wohlbefinden der Nutzer. Durch optimierte Planung entstand das perfekte Zusammenspiel aus aktiven und passiven Maßnahmen zur Gebäudeklimatisierung. Somit ist bewiesen, dass eine saisonale, natürliche Belüftung selbst in hohen Bauten in tropischen Regionen möglich ist. Ein nachhaltiger Ansatz, der die nächsten Finanzgeschäfte im Headquarter – in vielerlei Hinsicht – zum atemberaubenden Erlebnis macht.
Shenzhen Rural Commercial Bank Headquarters
Shenzhen, China
Bauherr: Shenzhen Rural Commercial Bank
Planung: Skidmore, Owings & Merrill (SOM)
Projektleitung: Scott Duncan
Brandschutz/Licht: Arup
Gebäudehöhe: 158 m
Grundstücksfläche: 7.665 m2
Nutzfläche: 94.049 m2
Fertigstellung: 2021
Text: Edina Obermoser
Fotos: Seth Powers
Kategorie: Projekte