Die Schule als Pädagogin

23. November 2023 Mehr

Dass das Colegio Reggio kein 0815-Bildungsbau ist, wird auf den ersten Blick klar. Mit dieser neuen Schule realisierte das spanische Büro Office for Political Innovation in Madrid einmal mehr nicht nur ein Gebäude, sondern ein architektonisches Statement. Das Team entwickelte einen verspielten, ökologischen Lernort, der die Kinder zum Entdecken und Experimentieren anregen soll und setzte dabei unter anderem auf die Verwendung von wenigen und natürlichen Materialien.

 

Colegio Reggio - Encinar de los Reyes, Madrid - Andrés Jaque / Office for Political Innovation

 

Andrés Jaque ist der Gründer des Planungsbüros und bekannt für seine unkonventionellen Entwürfe. In Encinar de los Reyes, einem Viertel im wohlhabenden Norden der spanischen Hauptstadt, machte er seinem Ruf mit der Umsetzung dieser Schule einmal mehr alle Ehre. Anstelle eines schlichten Gebäudes entstand hier ein extravaganter Baukörper mit Bullaugen, Bögen und gezackten Dächern.

Als Basis für das auffällige Design dienten die Grundsätze der Reggio-Pädagogik. Diese geht auf Loris Malaguzzi zurück, der die Erziehungsphilosophie in den 1970er-Jahren in der italienischen Stadt Reggio nell‘Emilia begründete, und verleiht dem Bildungsbau seinen Namen. Offene Raumkonzepte und flexible Strukturen sollen in Reggio-Schulen Kreativität und Entdeckerdrang der Kinder fördern und diese somit beim eigenständigen Lernen unterstützen. Angepasst an diese Idee baute man nun ein Gebäude mit einem komplexen Ökosystem, welches die Architekten selbst als Multiversum bezeichnen.

 

 

Das Planerteam suchte in vielerlei Hinsicht gezielte Alternativen zur herkömmlichen Bildungsarchitektur. Mithilfe einer Reihe von Gestaltungsprinzipien erarbeitete es eine Low-Budget-Strategie, um den ökologischen Fußabdruck des Projekts weitestgehend zu optimieren: Während Bildungsbauten als flache Ensemble oft eine große horizontale Ausdehnung aufweisen, konzentrierte man sich auf die Vertikale und stapelte die unterschiedlichen Funktionen in einem kompakten Volumen mit sechs Geschossen. Auf diese Weise konnte nicht nur die Grundfläche, sondern auch der Anteil von Fundamenten und Fassadenflächen minimiert werden. Auch sonst folgte man der Prämisse der radikalen Reduktion und senkte so den gesamten Materialeinsatz um 48 %. Bei Fassaden und Dächern wurde ebenfalls gänzlich auf komplexe Lösungen verzichtet und stattdessen die rohe Ästhetik des Schulhauses gezielt in den Fokus gerückt. Die Konstruktion analysierte und dimensionierte man in Zusammenarbeit mit dem Statik-Experten Iago González Quelle. Daraus entstand ein effizientes Tragwerk, welches bei den Aufbaustärken im Vergleich zu herkömmlichen Stahlbetonkonstruktionen durchschnittlich mehr als 15 cm und damit 33 % an grauer Energie einspart. Auch im Inneren gibt es keine unnötigen Wandverkleidungen oder abgehängten Decken. Die Gebäudetechnik wird nicht versteckt, sondern Rohre, Leitungen, Gitter und andere Installationen sichtbar in die Räume integriert. So möchte man den Schülern ungehinderten Einblick in mechanische Systeme wie Wasser- und Stromversorgung sowie Belüftung geben.

 

 

Zum zentralen Element des nachhaltigen Konzepts wird die senfgelbe Gebäudehülle. Diese besteht mit Kork zu 80 % aus einem nachwachsenden Rohstoff und vereint Außenverkleidung und Wärmedämmung in einem. Mit einer Stärke von 14,2 cm und einer Dichte von 9.700 kg/m3 trägt das natürliche Material – in der Metropole mit ihren extremen Temperaturunterschieden zwischen Sommer und Winter – sowohl zur passiven Regulierung des Raumklimas als auch zur Senkung des Energiebedarfs bei. Darüber hinaus soll die organische Oberfläche mit ihren Vor- und Rücksprüngen künftig zum urbanen Lebensraum für Pilze, Pflanzen und Mikroorganismen werden.

 

 

Neben der besonderen Farbe und Haptik prägen die Ansichten des Bildungsbaus verschiedenste geometrische Formen und Öffnungen: Hohe Rundbögen aus Stahlbeton geben aus der Schulbibliothek den Blick in den Garten frei. Recht- und dreieckige Verglasungen wechseln sich mit runden Bullaugenfenstern ab. Den krönenden Abschluss bildet das zickzackförmige Dach.

 

 

Das Innere steht ganz im Zeichen der vertikalen Progression. Wie in einem kleinen Dorf verteilen sich die einzelnen Lerneinheiten für die 0- bis 18-Jährigen hier auf die sechs Etagen. Sowohl das Unter- als auch das Erdgeschoss sind teils in den Boden integriert und lassen das Gebäude mit seiner Umgebung verschmelzen. Als unterste Niveaus beinhalten sie die Räumlichkeiten der jüngeren Kinder und öffnen sich vielerorts in Form von raumhohen Fensterflächen zum Außenraum. Mit zunehmendem Alter und Entwicklungsstand steigen die Lernenden über die Jahre hinweg in die darüberliegenden Ebenen auf. Im dritten und vierten Stockwerk befindet sich das Herzstück der Schule: eine große Halle bzw. Agora. Diese dient mit 500 m2 Fläche und 8 m Höhe als zentraler Versammlungsort. Die Klassenräume in den obersten beiden Geschossen sind rund um ein üppig bepflanztes, atriumartiges Gewächshaus angeordnet. Als Teil der spielerischen Wissensvermittlung werden die Indoor-Gärten von den älteren Schülern selbst gepflegt. Sämtliche Lernräume sind offen und flexibel nutzbar gestaltet und bieten ebenso großzügige Freiflächen für gemeinschaftliches Lernen und Lehren wie auch geschützte Rückzugsorte. Nebenräume wie Lager und Abfall sowie den Tank für die Bewässerung der Grünflächen verbirgt man ­– dem pädagogischen Konzept entsprechend – nicht hinter Wänden und Türen, sondern verleiht ihnen in der gesamten Schule bewusst Sichtbarkeit.

 

 

Mit dem Colegio Reggio heben Office for Political Innovation das Paradigma Nachhaltigkeit in Madrid auf ein völlig neues Niveau. Sie berücksichtigten den gesamten Lebenszyklus von Entwurf und Errichtung bis hin zum Betrieb, schufen einen einzigartigen, interaktiven Lernort und machten das Gebäude damit gleichzeitig selbst zum Pädagogen. In diesem Bildungsbau werden den jungen Nutzern mehr als nur klassische Inhalte vermittelt. Tag für Tag haben die Kinder die Möglichkeit, das vielseitige Schulhaus mit all seinen Einzelteilen, Materialien, Oberflächen und Farben intuitiv weiter zu erforschen und so ein Verständnis für den komplexen Organismus zu entwickeln. Natürliche Korkfassade, hauseigener Bewässerungstank, grünes Gewächshausatrium, freiliegende Installationen und mehr – bei all der Fülle von Eindrücken des vielschichtigen Ökosystems läuft man als Betrachter lediglich Gefahr, auf die eigentliche Message des Planerteams zu vergessen: „­Weniger (Material) ist mehr.“

 

 

 

Colegio Reggio
Encinar de los Reyes, Madrid

Bauherr: Colegio Reggio Madrid
Planung: Andrés Jaque / Office for Political Innovation
Projektleitung: Ángel David Moreno Casero, Carlos Peñalver Álvarez, Almudena Antón Vélez
Statik: Qube Ingeniería de Estructuras (Iago González Quelle, Víctor García Rabadán)
Landschaftsplanung: Mingobasarrate (Jorge Basarrate, Álvaro Mingo)
Gebäudetechnik: JG Ingenieros (Juan Antonio Posadas)

Nutzfläche:           5.496 m2
Planungsbeginn:   2018
Bauzeit:                 2020 – 2022

www.officeforpoliticalinnovation.com

 

Text: Edina Obermoser
Fotos: José Hevia

 

Kategorie: Projekte