Die Wiedergeburt der Vorfertigung – Sprzeczna 4
Die Wiedergeburt der Vorfertigung – Sprzeczna 4 / Warschau / BBGK Architekci
Vorfertigung und Bauen aus (Beton)Fertigteilen genießen in den ehemaligen Ostländern einen schlechten Ruf. In kommunistischen Zeiten und auch während des Sozialismus wurden hier massenhaft sogenannte Paneelbauten errichtet, in schlechter Qualität, billig und für ein zeitgemäßes Wohnen heute nicht mehr geeignet. Dieses Vorurteil sitzt tief im Bewusstsein der Menschen.
Dieser prototypische Demonstrationsbau der BBGK Architekci in Warchau, Polen, versucht, mit den weitverbreiteten Vorurteilen bezüglich vorgefertigter Wohnbauten aufzuräumen. Es ist der erste in dieser Methode errichtete Bau seit 30 Jahren, seit der Zeit des Kommunismus. Alle möglichen Produktionstechniken wurden dabei angewendet: gefärbter Stahlbeton, in den Wänden eingelegte Leitungen, Deckenheizung und Reliefstrukturen.
Der mehrgeschossige Wohnbau Sprzeczna 4 der BBGK Architekci im Stadtteil Praga von Warschau ist nun ein Manifest für die Vorfertigung im architektonischen Prozess. Ganz bewusst haben die Architekten sämtliche, negativ konnotierte Kriterien und Methoden des Vorfertigungsprozesses angewandt: sichtbare Betonoberflächen, Muster und Reliefs, elektrische Installationen in den Wänden, Deckenheizung und vieles mehr. Das Resultat ist eine Architektur, die aus vielen großformatigen, in der Fabrik vorgefertigten Bauteilen zusammengesetzt ist.
Das Gebäude hat aber auch eine andere Bedeutungsebene, nämlich in städtebaulicher Hinsicht. Die Architektur erhebt den Anspruch, zu einer gelungenen und „schönen“ Restaurierung des Bezirkes Praga beizutragen, beziehungsweise will diese anregen. Sie soll nicht nur in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ein Zeichen setzen, sondern auch in einem größeren Maßstab. Sie soll der Ausgangspunkt für die Instandsetzung des gesamten städtischen Blockes werden. Man kann in dieser Hinsicht auch postulieren, dass der Schlüssel zur Restaurierung eines Häuserblockes dessen Straßenfassade ist. Die Ausrichtung der Architektur in einem 45 Grad-Winkel am Grundstück resultiert auch aus den Problemen des Wohnbaus in Polen. Nichtrechteckige Räume in kleinen, sperrigen Appartements – typisch für den Wohnungsmarkt in Warschau – sind nicht zum Wohnen und Leben geeignet. Somit trägt der Entwurf der Architekten mit der Drehung des Grundrisses zu einer überraschenden Lösung bei. Die rasterförmige Straßenansicht (der Nachbarbauten) wird mit Balkonen und Loggien repliziert und die maximale Baufläche genutzt. Somit entsteht wieder eine, geschlossen wirkende, Blockfassade.
Die Architekten hatten mit ihrem Büro den Auftrag bekommen, den Begriff (und die damit verbundenen Vorurteile) der Vorfertigung zu entzaubern. Diese Herausforderung haben sie angenommen. Die Architektur wurde ganz bewusst auf einem Grundstück errichtet, welches absolut nicht in die Stereotypen der Vorfertigung passte: klein und verzwickt, mitten in einer Fassade aus Gebäuden des 19. Jahrhunderts. Und genau da haben sie – unlogischerweise – die Bedingungen der Vorfertigung angewandt.
Die Liegenschaft aus den großformatigen Fertigteilen ist nicht voll ausgebaut und enthält keinerlei Accessoires, Dekorationen oder Beschläge im Innenausbau. Es ist die ehrliche Geschichte eines Gebäudes, was es eben ist, woraus es besteht und wie es funktioniert. Die Betonfertigteile sind auch ganz bewusst in roter Farbe hergestellt, um dem optischen Alterungsprozess des Materials entgegen zu wirken. Sie sind ein Kontrapunkt zu den verputzten Häusern, die nur perfekt und schön im Augenblick des Verkaufes sind, später fällt der Putz sowieso ab. Der Bezirk Praga wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder komplett restauriert. Er ist somit für seine Bewohner mit der roten Farbe verbunden, weil es die Farbe der kaputten Ziegelbauten ist, ohne Verputz, die Farbe der Kriegsruinen. Und das ist im (Unter)Bewusstsein der Einwohner Warschaus eingeprägt.
Sprzeczna 4 ist auch polemisch gemeint: Gegen ein halbfeudales Konstruktionssystem (Ziegelbauten), basierend auf der Arbeit minder bezahlter Migranten mit einer Methode, die praktisch aus dem 19. Jahrhundert stammt. Es ist somit der Versuch, in Polen die Regeln des fairen Wirtschaftens und Produzierens einzuführen, samt der sozialen Verantwortung bei Verwendung einer Produktionsmethode, die in Westeuropa und Skandinavien gebräuchlich ist. Und paradoxerweise ist dieses kleine, extrem untypische, aber fortschrittliche Gebäude die Vorausschau auf eine – durch Industrialisierung und Vorfertigung – mögliche Bauweise für die Zukunft. Die Architektur steht für eine totale Vorfertigung, abgesehen von der durchlässigen Wand in der Garage (Erdgeschoss) und der Bodenplatte, dem Fundament ist alles aus Fertigteilen. Im Gebäude gibt es 57 Wohneinheiten mit Größen von 28 bis 75 Quadratmeter. Die reine Bauzeit betrug vier Monate, einschließlich des Einbaus von Fenster und Türen.
Und da moderne Architektur immer eine Verbindung zwischen Kunst und Handwerk anstreben sollte, befinden sich einige kleine Ornamente als Relief in den Betonteilen: zum Beispiel die Warschauer Meerjungfrau. In Zeiten des beginnenden Kapitalismus auch in Polen sollten auch Bewohner eines Immobilienprojektes einen Kontakt mit Kunst haben können, meinten die BBGK Architekci.
Sprzeczna 4 Wohnbau
Warschau, Polen
Bauherr: Budizol Sp. Zoo. S.K.A.
Planung: BBGK Architekci
Landschaftsplanung:Pasa Design
Statik: RWK Engineers
Grundstücksfläche: 1.319 m2
Bebaute Fläche: 741 m2
Nutzfläche: 2.660 m2
Planungsbeginn: 09/2015
Bauzeit: 2 Jahre
Fertigstellung: 2017
Text:©Peter Reischer
Fotos:©Juliusz Sokołowski
Kategorie: Projekte