Ein Dachgarten auf der U-Bahn
Crossrail Station Canary Wharf / London / Foster + Partners
London ist eine vibrierende Stadt, Finanzmetropole und auch ein Mekka der Architektur. Vieles, das hier an architektonischen Schmuckstücken herumsteht, schaut auf den ersten Blick einfach aus – doch die wenigsten Betrachter wissen, oder können sich vorstellen, wie kompliziert die Prozesse wirklich sind, die zu solch einer ‚einfachen‘ Form führen. So auch beim Dach der neuen Crossrail Station Canary Wharf. Schon beim ersten Anblick zeigt sich ein weiterer Antagonismus – ein Holzdach über einem tropischen Garten, neben all den Glas- und Stahlbetonbauten der internationalen Finanzwelt!
Das Projekt Crossrail ist derzeit eines der größten Infrastrukturprojekte in Großbritannien. Es wird hier eine ca. 100 km lange neue Bahnlinie gebaut, die von Mainhead im Westen nach Shenfield im Osten von London führt. Die Linie wird in einem Bereich in einem ca. 21 km langen zweiröhrigen Tunnel unterirdisch geführt. Ebenfalls unterirdisch verlaufen zusätzliche Seitenarme zum Großflughafen Heathrow im Westen bzw. im Osten über das neue Geschäftsviertel der Docklands (Canary Wharf) und die Themse querend nach Abbey Wood. Bis zu 24 Züge pro Stunde, die also in einem 2 ½ Minutentakt verkehren, werden im Vollausbau in den Hauptverkehrszeiten den Mittelteil der Strecke frequentieren.
In Canary Wharf entstand (und entsteht noch) eine der Stationen der Regional-Expresslinie Crossrail, die den Flughafen Heathrow mit Londons Osten verbinden wird. Entworfen wurde die Station vom Architekturbüro Foster + Partners, die Baukosten werden auf ca. 18 Mrd. Euro geschätzt und als Fertigstellungs- und Eröffnungstermin wird derzeit das Jahr 2018 genannt. Einen Großteil des Gesamtbauwerkes kann man jedoch nicht sehen – er befindet sich unterirdisch, bis zu 28 Meter unter dem Wasserspiegel der Themse. Auf den beiden untersten Ebenen sind die eigentlichen Bahnhofsfunktionen und Areale – die Geleise und die Kassenhalle mit den 40 Meter langen Rolltreppen – situiert. In den darüber liegenden 4 Geschossen werden Geschäfts- und Freizeiteinrichtungen wie z. B. auch ein Kino errichtet.
Der Bahnhof, der sich in einem Seitenarm der Themse befindet, entstand aus der Zusammenarbeit des Architekturbüros mit dem international renommierten Spezialisten für komplexe Dach- und Fassadenkonstruktionen seele-austria aus Schörfling und der Firma WIEHAG, Holzbauunternehmen aus Altheim. Im Juni dieses Jahres konnte die spektakuläre Dachkonstruktion – ein 300 Meter langes, tonnenförmiges Dach mit zwei 30 Meter-Auskragungen an den offenen Enden – übergeben werden. Damit ist der oberirdische Teil der Station benutzbar und fertig, die Restaurants und Bars funktionieren und der Park unter den Membrankissen bietet regensichere Erholung für die Büroangestellten der umliegenden Skyscraper. Die Dacheindeckung besteht aus transparenten und semitransparenten Membrankissen, die aber nicht die volle Fläche überdeckten. Sie sind – je nach unterschiedlicher Bedruckung mehr oder weniger transparent – mit Öffnungen, die Ausblicke aus den Cafés ermöglichen bzw. im zentralen Bereich eine natürliche Bewässerung des Parks und auch eine Bepflanzung mit größeren Sträuchern und Bäumen, zulassen.
Optisch interessant und auch eine logistische Meisterleistung ist dieser sichtbare, oberirdische Teil der Station, vor allem das Dach allemal. Es besteht aus 780 luftgefüllten Membrankissen, die auf 1.414 Holzleimbinder montiert wurden. Vier sogenannte Luftversorgungsstationen sorgen über 330 Luftverteilerkästen für den permanenten Luftaustausch zwischen den zweilagigen Kissen. Das ca. 31 m freitragend gespannte Holztragwerk verläuft über die gesamte Länge der Station von 260 m und kragt an beiden Enden jeweils 30 m spektakulär über die Wasserfläche aus. Die längsseitigen Enden bleiben ebenfalls offen. Durch den Umstand, dass die Tragschale nicht nur im Querschnitt eine elliptische Bogenform darstellt, sondern darüber hinaus in der Ausschreibungsphase auch in Grundriss und Ansicht eine konkave Krümmung erhielt, handelte es sich beim ersten Entwurf um eine überaus komplexe Struktur, die kaum gleiche Bauteile beinhaltete.
Im Laufe der Planung einigte man sich auf die Ausführung einer Tonnenform, wodurch eine regelmäßigere Dachfläche entstand. Weiters wurden auch im Zentralbereich die Seitenlängen der Dreiecke in den einzelnen Linien konstant gehalten, was zu mehr gleichen Teilen und einer Vereinfachung in Konstruktion und Produktion führte. In den Endbereichen werden die nach außen hin fallenden Scharen der Diagonalen aber immer flacher, wodurch die beeindruckende Form der Auskragung erzeugt wird. Das hat dann auch zur Folge, dass jedes Dreieck mit individuellen Seitenverhältnissen auszuführen war.
Man entschied sich für die Lösung, die Holzbauteile als gerade parallelgurtige Balken auszuführen und die Verdrillung, die sich bei den Diagonalbalken ergibt, in den speziell konstruierten Stahlknoten aufzunehmen.
Für die gesamte Konstruktion wurden 564 Knoten und 1525 Bauteile, sowie 1414 Brettschichtholz-Elemente (BSH) benötigt. Für alle Holzteile wurden insgesamt 1.000 m3 PEFC-zertifiziertes heimisches Nadelholz verwendet.
Eine besondere Herausforderung bei diesem Projekt war auch die statische Bemessung der 3.050 Anschlusspunkte, da dafür keine Standardsoftware verfügbar war. Durch die vielfältigen geometrischen Randbedingungen und Lastkombinationen war es unwirtschaftlich, die Bemessung der Knoten- und Verbindungselemente mit „einhüllenden“ Lasten aus allen möglichen Kombinationen zu bemessen. Daher erstellte man eigene umfangreiche Bemessungstabellen und Makros, um damit für jeden Anschlusspunkt die Nachweise für die dort auftretenden Lastkombinationen zu führen. Zusätzlich wurden auch Vergleichsrechnungen mit räumlichen Finite Elemente Modellen durchgeführt.
Ein wesentliches Augenmerk in der Produktion und Montage musste auf die Maßhaltigkeit der Bauteile gelegt werden. Dies galt für Holzbauteile ebenso wie für jene der Stahlverbindungsteile, da einerseits eine Struktur dieses Typs und die Art der verwendeten Verbindungsmittel wenige Möglichkeiten für einen Toleranzausgleich bieten und andererseits die darauf aufbauende Fassaden- und Dachkonstruktion mit präzise gefertigten Aluminiumprofilen und Membrankissen keine Toleranzen zuließen.
In der Regel treffen bei den Knoten 4 Diagonalbalken und 2 Horizontalbalken aufeinander. Die Lösung bestand darin, dass man einen sternförmig zusammengeschweißten, zentralen Knotenstahlteil entwickelte, der an seinen Enden aufgeschweißte Kopfplatten hat, die an die Geometrie der Holzbalken angepasst sind. In diesen Kopfplatten sind auch jeweils vier Bohrungen für eine Schraubverbindung vorgesehen. An den Enden der Holzbalken wiederum wurden ebenfalls Stahlplatten mit vier Innengewindebohrungen, welche die Schraubenmutter ersetzen, angebracht. Die Verbindung zwischen Stahlplatte und Hirnholz wurde mit geneigt eingedrehten Vollgewindeschrauben hergestellt. Auf der Baustelle kann somit das Holzteil mit dem Zentralknoten ganz einfach mit Schraubenbolzen, gleich einem konventionellen Kopfplattenstoß, verbunden werden.
Da vom Bauherrn die Lebensdauer von „Monumentalen Bauwerken“, wie es in der Norm so schön heißt, gefordert wurde, musste die Konstruktion auf 120 Jahre Bestand ausgerichtet werden. Daher wurden für die Befestigung der werkseitig an den Holzenden angebrachten Stahlplatten Vollgewindeschrauben mit Zink-Nickelbeschichtung eingebaut, die eine 1.500 Stunden Salzsprühnebelprüfung nach EN ISO 12944 bestehen. Zusätzlich wurde die Fuge zwischen der Stahlplatte und dem Hirnholz ebenso wie die Senkungen für die Schraubenköpfe in den Stahlplatten mit Epoxidharz Zweikomponentenkleber ausgespachtelt.
Für die Planung und Ausführung dieses komplexen Dachtragwerkes war es notwendig, die Geometrie parametrisiert zu erfassen. Ausgehend von einem, von der Architektur vorgegebenen koordinativ fixierten, Gitternetz wurden exakte Regeln für die genaue lagemäßige Positionierung aller Bauteile inklusive aller Einzelteile der Knotenstahlteile beschrieben und tabellarisch in Listen (Excel) erfasst und umgesetzt. Auf dieser Basis konnten unabhängige 3D-Modelle für die Statik, die Architektur bzw. Werkplanung erstellt werden.
Die Montage war so konzipiert, dass von der Mitte des Bauwerkes weg nach beiden Seiten hin längs des Bauwerkes gearbeitet wurde. Die Ausführung der Konstruktion mit den momentensteifen Knotenverbindungen und eine präzise Vorfertigung ermöglichte es, diese Struktur ohne aufwendiges Raumgerüst zu montieren. Im zentralen Mittelbereich mit seinen großen Öffnungen wurden, bis auf eine Höhe von ca. 7 m, die Einzelbauteile im freien Vorbau zusammen zugesetzt. Danach mussten jeweils die Knotenpunkte temporär mit Stützen unterstellt werden bis so viele Elemente montiert waren, dass die Bogenstruktur im First geschlossen war. Ab dem Bereich, in dem eine durchgehende Gitterstruktur vorhanden war, konnte bis auf einzelne temporäre punktuelle Unterstützungen der Knoten auf weitere Unterstellungen komplett verzichtet und im freien Vorbau gearbeitet werden, was eine sehr wirtschaftliche Methode darstellte. Die gesamte Dachkonstruktion wurde in nur 6 Monaten fertig montiert.
Crossrail Station Canary Wharf
London, England
Bauherr: Canary Wharf Group PLC
Planung: Foster + Partners
Statik: ARUP, WIEHAG, seele
Grundstücksfläche: 53.500 m2
Nutzfläche: 24.650 m2
Planungsbeginn: 2008
Fertigstellung: 2015
Fotos
© Nigel Young
© Peter Reischer
Kategorie: Projekte