Ein Meer aus Raum und Licht

7. März 2022 Mehr

Mit 50 verschiedenen Gerichtssälen, mehr als 1.000 MitarbeiterInnen – davon 200 RichterInnen – und 140.000 Urteilen pro Jahr ist das Amsterdamer Gerichtsgebäude das bei weitem größte der elf Einrichtungen in den Niederlanden. Das von KAAN Architecten entworfene Gebäude besticht aber nicht nur auf räumlicher und ästhetischer Ebene. Im Vergleich zum alten Justizkomplex konnte der Energieverbrauch um etwa 90 Prozent gesenkt werden.

 

 

Das neue Gerichtsgebäude im aufstrebenden Stadtteil Zuidas ist nicht nur optisch eine Bereicherung für die Stadt Amsterdam, es kann sich auch in energetischer Hinsicht sehen lassen. Im Vergleich zum alten Justizkomplex konnte der Energieverbrauch um etwa 90 Prozent gesenkt werden. Ein Anspruch, dem das renommierte Büro KAAN Architecten mit Sitzen in Rotterdam, São Paulo und Paris in all seinen Projekten gerecht zu werden versucht.

 

 

Kees Kaan, Vincent Panhuysen und Dikkie Scipio leiten ein internationales Team von ArchitektInnen, LandschaftsarchitektInnen, StadtplanerInnen, IngenieurInnen sowie GrafikdesignerInnen und verfolgen dabei das selbstauferlegte Ziel, auch innerhalb der eigenen Reihen kritische Debatten zu fördern. Ein Aspekt, der auch dem Neubau des Gerichtshofs in der Hauptstadt der Niederlande zugutekam. Öffentlicher Raum, Kommunikation, aber auch private Rückzugsorte finden in dem Entwurf gleichbedeutend ihre Berechtigung. Das Raumkonzept liest sich dabei durchaus anspruchsvoll: Über einen öffentlichen Platz wird das Foyer erschlossen, von dem aus 50 Gerichtssäle, Büros, die Lobby, das Restaurant, ein Konferenzzentrum und die Bibliothek erreichbar sind. Der Komplex bietet Platz für bis zu 1.000 GerichtsmitarbeiterInnen sowie 200 Angestellte von angegliederten Partnerbetrieben.

 

 

Der Erdgeschossbereich des 50 Meter hohen Gebäudes ist dem öffentlichen Bereich gewidmet und bietet durch große Fensterfronten ungehinderte Ein- und Ausblicke. Ein zentral positioniertes Foyer, das mit Informationsschaltern und einer Cafeteria ausgestattet ist, empfängt die BesucherInnen in der ersten Instanz. In den oberen Stockwerken befinden sich – umgeben von großzügigen Foyers – die Büroräume. Eine skulptural gestaltete gezirkelte Treppe verbindet die Ebenen auch visuell und führt, gleich einem vertikalen Drehkreuz, zu den Büros und Richterzimmern, die um begrünte Innen- und Außenhöfe angeordnet sind. Die Haftzellen für die Angeklagten befinden sich indessen unter dem Gebäude und sind über separate Auf- und Abfahrtsrampen erreichbar.

 

 

Zur funktionalen Trennung ist das Gerichtsgebäude auf horizontaler Ebene in drei größere Abschnitte unterteilt, welche auch die Laufwege von MitarbeiterInnen, RichterInnen und BesucherInnen innerhalb des Gebäudes lenken. Während externe Gäste vom Foyer aus nach oben gelangen, bewegen sich die AnwältInnen und RichterInnen aus ihren Bereichen in die entgegengesetzte Richtung nach unten. Raum und Fassade präsentieren sich in den stadtraumnahen Zonen offen und durchlässig und suchen geradezu die Interaktion. Bewegt man sich im Gebäude weiter nach oben, werden diese Kontaktpunkte zur Außenwelt nach und nach weniger und vom kollektiven auf den individuellen Maßstab in dem Maße skaliert, wie die Arbeitsbereiche vertraulicher und privater werden.

 

 

Dort, wo das Gebäude und die Stadt ineinanderfließen zu scheinen, befindet sich ein nach Süden ausgerichteter Platz von der Größe eines halben Fußballfeldes, der dementsprechend ein Viertel des Geländes einnimmt. Für den Boden wurde derselbe hellgraue Stein verwendet wie im Inneren des Gerichtshofs und auch die Bänke aus dem Foyer finden sich hier wieder. Das elegante Vordach über dem Eingang reicht ebenso weit in den Innenraum hinein und verbindet die beiden Bereiche miteinander. Diese einladende Geste in Richtung Stadt wird noch durch eine flach ansteigende Rampe unterstrichen, auch wenn die Struktur aus Sicherheitsgründen (zum Schutz vor Kollisionen) leicht angehoben wurde.

 

 

Neben der räumlichen Qualität, der städtebaulichen Einbindung und feinsinnigen Landschaftsgestaltung sowie der gezielten Positionierung von Kunstobjekten (von Nicole Eisenman, Femmy Otten und Jesse Wine), setzten die Architekten aber auch auf den Einsatz fortschrittlicher technischer Lösungen bei der Fassadengestaltung und den Installationssystemen sowie die Verwendung von Sonnenkollektoren auf dem Dach. Der energetische Aspekt war schon aus ureigensten Interessen ein springender Punkt: Die für den Entwurf und Bau verantwortliche Arbeitsgemeinschaft und öffentlich-private Partnerschaft mit der Regierung NACH (New Amsterdam Court House) – bestehend aus Macquarie Capital, ABT, DVP, KAAN Architecten, Heijmans und Facilicom – zeichnet in den kommenden 30 Jahren auch für die Instandhaltung und den Facility Service inklusive Wartung der gesamten Ausstattung, die Sicherheit, die Besucherführung und die intelligente Verwaltung der Arbeitsplätze des Gerichtsgebäudes verantwortlich.

 

 

Die Planung ist generell geprägt vom Gedanken der Nachhaltigkeit und Zukunftssicherheit. So können beispielsweise in den kommenden Jahren die Gerichtssäle in einem Teil des fünften Stocks erweitert und ein zusätzliches Stockwerk aufgesetzt werden, wofür die Konstruktion und die Installationen bereits vorbereitet wurden. Auf diese Weise sollen Abriss- und Bauarbeiten über einen längeren Zeitraum vermieden werden. Daneben wurde auf robuste Materialien und durchdachte Details großer Wert gelegt. Der Naturstein im öffentlichen Raum ist beispielsweise nicht nur langlebiger und pflegeleichter als andere Materialien, die natürliche Optik tut auch der Aufenthaltsqualität sowie dem Raumklima gut. Kombiniert mit der großzügigen Weite des Inneren und den vielen reflektierenden Glasflächen und Weißelementen lässt die bewegte Struktur des Steins die BesucherInnen des Amsterdam Courthouse gefühlt in ein Meer aus Licht und Raum eintauchen. Ein unerwarteter Moment der Ruhe und Schönheit inmitten des hektischen städtischen Betriebs.

 

 

Der Nachhaltigkeitsgedanke hört aber bei Architektur und Wartung nicht auf: Ein Echtzeit-Datensystem gibt Aufschluss darüber, wo gerade Arbeitsplätze verfügbar sind, die sich anschließend wiederum über eine App reservieren lassen. So weiß das Reinigungs- und Servicepersonal, wo am Ende des Tages zusätzlicher Einsatzbedarf besteht, aber auch, wo Wartungsarbeiten anfallen. KAAN Architecten ist es auf eindrucksvolle Weise gelungen, ein praktisch energieneutrales Gebäude zu schaffen, dessen Architektur sich komfortabel und funktional sowie elegant und zeitlos präsentiert. Mit seinem nüchternen und sachlichen Ausdruck wird das Bauwerk seinem Zweck vollauf gerecht, ohne dabei das Menschliche oder die NutzerInnen aus den Augen zu verlieren. Besonders beeindruckend: Die sich immer wieder überraschend öffnenden Perspektiven, die in dieser sonst so geradlinigen und klaren Architektur Blickwinkel auf futuristisch anmutende Raumstrukturen eröffnen. Vielleicht sieht so die Zukunft aus.

 

 

 

Courthouse Amsterdam
Amsterdam, Niederlande

Bauherr: Rijksvastgoedbedrijf (Central Government Real Estate Agency)
Planung: KAAN Architecten
Statik: ABT
Landschaftsarchitektur: Simona Serafino Landscape Architect

BGF: 60.200 m2
Planungsbeginn: 2016
Bauzeit: 3 Jahre
Fertigstellung: Dezember 2020
Baukosten: 235 MIO EURO

www.kaanarchitecten.com

 

Text: Linda Pezzei
Fotos: Fernando Guerra FG + SG

Kategorie: Projekte