Ein Prisma im Wiesengrün

14. November 2024 Mehr

Die hügeligen Felder von Ästad Vingård, einem der größten Weingüter Schwedens, schmückt ein einsames Juwel. Scheinbar unvermittelt wächst inmitten vom endlosen Grün der Rebstöcke und Wiesen ein markantes Glashaus aus dem Boden. Gestaltet wurde das Objekt, das Architektur, Essen, Wein, Interieur und Kunst vereint, von Norm Architects für das Sternerestaurant ÄNG, in dem Küchenchef Filip Gemzel ein 19-Gänge-Haute-Cuisine-Dinner serviert.

 

 

„Wenn man Essen und Wein liebt, ist Fine Dining eine besondere Erfahrung“, sagt Daniel Carlsson, Geschäftsführer und Partner von Ästad Vingård und dem Restaurang ÄNG, „man wünscht sich, dass der Abend nie zu Ende gehen möge. Wenn man aber Stunde um Stunde am selben Tisch und auf demselben Stuhl sitzt, fordert das seinen Tribut. Es ist schwer, über so lange Zeit aufnahmefähig zu bleiben und jedes Gericht zu genießen – es braucht immer neue Reize, etwas, das einen wachrüttelt und den Geist erfrischt.“

 So beginnt das Erlebnis ÄNG bereits vor dem eigentlichen Betreten des Gebäudes mit einem Spaziergang auf dem gewundenen, grasgesäumten Weg hin zu dem anmutigen Gewächshaus inmitten der Felder. Die tragenden Strukturen haben die Architekten auf die Innenseite des Bauwerks gelegt, sodass das Glashaus wie ein Prisma in der Mitte des Feldes ruht; absolut scharf und glatt, ein Spiegel der Umgebung.

 

 

Von der Natur inspiriert

Das schwedische Wort „äng“ bedeutet auf Deutsch „Wiese“, wobei das gleichnamige Restaurant in Halland an der Westküste Schwedens, zwischen den Städten Göteborg im Norden und Helsingborg im Süden gelegen, sowohl Sinnbild der Oberfläche wie auch der darunter liegenden Teile der Landschaft ist. Üppiges Grün, endlose Feuchtgebiete und die glitzernde Oberfläche eines nahe gelegenen Sees prägen den ersten Eindruck, ehe sich der schmale Weg in einen Steinboden verwandelt, der sich von außen elegant und subtil ins Innere des Gebäudes zieht.

 

 

Eine schwere Glastüre leitet den Gast in einen großzügigen, lichtdurchfluteten Raum, der gleichermaßen dezent und kraftvoll gestaltet ist. Der Weg führt vorbei an der offenen Küche in den Loungebereich, den Massivholz und weiche Polsterungen charakterisieren und der das Gefühl wecken soll, mitten in einem Feld zu sitzen, nichts als den klaren Himmel über dem Kopf. „Das Glashaus war eine Idee des Kunden, die wir mitentwickeln und umsetzen durften“, sagen Norm Architects. Den Geist des Ortes prägen neben der Architektur und Natur auch Kunstwerke, Keramiken und Skulpturen, die unter anderem von Sara Martinsen, Anders Pfeffer Gjengedal, Viki Weiland, Ulla Bang und Bonni Bonne eigens für den Raum entworfen wurden.

Wie in der Haute Cuisine, dreht sich auch bei der Gestaltung des Restaurants alles um das Zusammenspiel zahlreicher Elemente – oder Zutaten, die das Erlebnis letztendlich ausmachen und abrunden – angefangen bei der Architektur über das Design und die Beleuchtung bis hin zum Geschmack, dem Geruch und den Geräuschen. „Wenn all diese Elemente ausgewogen und gut aufeinander abgestimmt sind, dann entsteht ein einzigartiges Erlebnis, das aus dem Rahmen fällt“, sind sich die Architekten sicher.

 

 

Karimoku Case Study

Kein Wunder, dass es Norm Architects am Herzen lag, auch die Möbel für das Restaurant individuell zu gestalten. Die Anmutung von ÄNG ist auch das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Norm Architects und Keiji Ashizawa Design im Rahmen der Karimoku Case Study Serie. Die Kollektion steht für eine harmonische Mischung aus japanischen und skandinavischen Designprinzipien und spiegelt ein Gleichgewicht zwischen Landschaft und zeitgenössischer Ästhetik wider. „Inspiriert von der unberührten nordischen Natur, die das Restaurant umgibt, und der japanischen Sensibilität für Designästhetik und Handwerkskunst, bietet die Inneneinrichtung ein ganzheitliches, sinnliches Erlebnis, das das kulinarische Angebot verfeinert und die Identität des Restaurants widerspiegelt“, erklärt Frederik Werner von Norm Architects und Kreativdirektor für Karimoku.

Das Erlebnis eines Besuchs im Sternerestaurant ist vor dieser Kulisse dramaturgisch aufgebaut: Im weiteren Verlauf des Abends werden die Gäste zu einem versteckten Aufzug geleitet, der in einen katakombenartigen Weinkeller mit gedämpfter Atmosphäre führt. In der Mitte des Raumes lässt eine ruhige, im Dunklen liegende Lounge Verborgenes erahnen. Um die Übergänge zwischen Licht und Schatten zu betonen, treffen am Weg zurück zum Speisesaal in Form von Ziegelstein geschnittene Fliesen auf einen weich anmutenden Boden aus Holz. Hier eröffnet sich mit dem Durchschreiten einer riesigen drehbaren Holztür wieder der Blick in die weite, lichte Natur.

So, wie sich diese im Laufe des fortschreitenden Abends und je nach Jahreszeit in ihren Farbnuancen ändert, so scheinen auch die Oberflächen im Restaurant zu changieren; während sich das Eichenholz leicht rötlich färbt, erscheint die offene Küche aus grauem Stein weicher. Womit wir wieder beim Anfang wären, zurück im Glashaus und bereit zum Aufbruch in die Nacht.

 

 

3 Fragen an Norm Architects

Inwieweit spiegelt sich die spätere Nutzung als Sternerestaurant in der Konzeption der Gestaltung wider?
Die ausgewählten natürlichen Materialien, wie Eiche für die maßgefertigten Möbel oder die eleganten Steinböden, wurden leicht veredelt oder bearbeitet, um sie noch zarter erscheinen zu lassen – so wie Küchenchef Filip Gemzel die lokalen Zutaten für das erstaunliche 19-Gänge-Degustationsmenü perfektioniert.

 Welche Idee steckt hinter dem Design des Weinkellers?
Wir wollten ein gedämpftes und intimes Gefühl schaffen, das einen Kontrast zu dem hellen Gewächshaus bildet. Man könnte sagen, der Raum dient der Erweckung der Sinne. Durch den Wechsel des Lichts spielen wir mit dem Phänomen des Helldunkels, einer Technik aus der bildenden Kunst, die dazu dient, Licht und Schatten für die Definition von Objekten zu nutzen, um ein Gefühl von Volumen zu erzeugen. Wenn man in den Schatten tritt, schwächt sich das Sehvermögen ab, während sich die übrigen Sinne schärfen. Man achtet automatisch mehr auf Geräusche, Gerüche, Geschmäcker und Berührungen – sogar die Intuition und der Instinkt werden gestärkt. Auf diese Weise bereiten der überraschende Übergang und der Wechsel der Szenerie die Gäste auf den nächsten Teil des ganzheitlichen Dinner-Erlebnisses vor.

 Die beste Zeit für einen Besuch im Restaurant?
Das Restaurant bietet zu jeder Jahreszeit einen einzigartigen Charme. Im Sommer ist das Ambiente besonders bezaubernd, wenn die Sonne über dem üppigen grünen Gras untergeht und ein warmes und einladendes Licht erzeugt. Im Herbst verwandelt sich die umliegende Landschaft in eine malerische Szenerie mit leuchtenden, verbrannten Farben, die ein gemütliches und rustikales Gefühl vermitteln. Der Winter bringt seinen eigenen Zauber mit sich, wenn der Schnee die Gegend weiß einhüllt und eine ruhige und friedliche Atmosphäre schafft.

 

 

Restaurant ÄNG
Halland, Schweden

Bauherr: Ästad Vingård
Planung: Norm Architects
Architekt und Partner: Jonas Bjerre-Poulsen, Peter Eland
Designer & Partner: Frederik Werner
Interior Designer: Hedda Klar
Fertigstellung: Sommer 2022

 www.normcph.com

 

 

Text: Linda Pezzei
Fotos: Jonas Bjerre-Poulsen

Kategorie: Projekte