Eine Insel für alle
Mit dem Projekt Pier 22 erfährt das ehemalige „Sunken City“-Areal an der Neuen Donau in Wien eine umfassende Neugestaltung. Der Entwurf von Mostlikely Architecture setzt auf eine nachhaltige, naturorientierte Gestaltung, die barrierefreie Zugänge zum Wasser, multifunktionale Erholungsräume und renaturierte Flächen miteinander verbindet. In mehreren Bauphasen soll so bis 2026 ein vielseitiger Freiraum mit Badeplattformen, Fitnesszonen, begrünten Aufenthaltsbereichen und kulturellen Angeboten wachsen.
Pier 22 steht nicht nur exemplarisch für Wiens Strategie, urbane Wasserzugänge aufzuwerten und für die Öffentlichkeit ganzjährig nutzbar zu machen, sondern ganz konkret für eine naturnahe Parklandschaft, die in den Augen von Mark Neuner, Gründer von Mostlikely Architecture, zeigen soll: „In Wien gibt es eine Insel für alle.“ Eine hohe Aufenthaltsqualität, kostenlose Angebote, robuste und zugleich hochwertige Materialen sowie vielfältige Nutzungsmöglichkeiten sollen eine neue Qualität von öffentlichem Raum schaffen. Mit der Fertigstellung 2026 soll Pier 22 neben der Uferpromenade samt Park-Working einen Kulturkiosk, einen schattigen Picknick-Garten sowie die Future Fitness Zone – eine Multifunktionssportfläche – bereithalten.
Gestaltungsprinzipien für den urbanen Raum
„Die Donauinsel ist für viele Wienerinnen und Wiener der Inbegriff von Sommer, Sonne und Freizeit“, sagt Mark Neuner. Tatsächlich kann man dank der U-Bahn-Anbindung in nur 10 Minuten vom Stephansplatz auf die verkehrsbefreite Donauinsel gelangen – „ein echtes Alleinstellungsmerkmal in der Stadt“, ergänzt Neuner und erklärt: „Mit unserem Projekt Pier 22 haben wir uns das Ziel gesetzt, die bestehenden Stärken der Donauinsel behutsam weiterzuentwickeln und gleichzeitig neue, starke Impulse zu setzen. Unsere Ambitionen für das Projekt waren von Anfang an hoch gesteckt: Es sollte ein neues, konsumfreies Areal in Wien entstehen, das Freizeit, Sport am Wasser, Arbeiten und Kultur vereint und gemeinschaftlich genutzt werden kann.“ Bislang werde die Donauinsel überwiegend im Sommer besucht und verfalle danach in einen langen Winterschlaf. Die ganzjährige Nutzung spielt für Neuner eine entsprechend zentrale Rolle: „In der ersten Phase des Wettbewerbs haben wir in einem interdisziplinären Team ein vielfältiges Nutzungskonzept entwickelt. Dafür haben wir bestehende Nutzende und Akteure zu einem Co-Creation-Workshop eingeladen, um herauszufinden, welche wirtschaftlichen Betreibermodelle nötig sind, damit sich diese Nutzungen langfristig selbst tragen.“ Dabei standen laut Neuner weniger formale Prinzipien im Vordergrund, sondern eher organisatorische und betriebswirtschaftliche Aspekte, für die im nächsten Schritt räumliche Lösungen entworfen wurden.
Innovatives Nutzungskonzept
Um den urbanen Raum optimal zu nutzen und den Bedürfnissen der Stadtbewohner:innen gerecht zu werden, verdichteten die Architekt:innen die verschiedenen Nutzungsangebote zu den drei thematisch für sich stehenden, aber miteinander verbundenen Landschaften Body, Mind und Soul. „In der Landschaft Body dreht sich alles um Sport und körperliche Aktivität. Hier entsteht ein großzügiger Bereich mit offenen und überdachten Sportfeldern, einem Outdoor-Gym und einem Sportparcours. Ein kleiner Sportkiosk sorgt für das gastronomische Angebot und dient als zentrale Anlaufstelle für alle sportlichen Aktivitäten.“ Die Landschaft Mind soll ausgestattet mit öffentlichem WLAN, komfortablen Sitzgelegenheiten und schattenspendenden Pergolen ein kostenfreies Arbeiten im Freien ermöglichen. „Das große Ausflugscafé bildet das gastronomische Zentrum von Pier 22 und wird in unserer Vision in der kälteren Jahreszeit, wenn die Donauinsel weniger frequentiert ist, auch als Co-Working-Café genutzt. So muss man nicht mehr weit reisen, um direkt am Wasser arbeiten zu können – das geht nun auch in Wien. Die Landschaft Soul widmet sich schließlich ganz der Badekultur. Eine lange Uferpromenade bringt im Sommer Urlaubsatmosphäre mitten in die Stadt.“ Sitzstufen, Spielzonen für Kinder und großzügige Lärchenholzplattformen sollen künftig zum Verweilen einladen, begrünte Sitzinseln und hängende Netze zusätzliche Möglichkeiten zur Entspannung und Interaktion schaffen. Ein besonderer Hingucker werden über dem Wasser schwebende Auskragungen, die laut Neuner auch zum Perspektivwechsel anregen sollen. Aktuell umgesetzt wurde der Soul-Bereich, in den nächsten Bauabschnitten folgen nun die Body- und Mind-Landschaften sowie die geplanten Gebäude.
Ressourceneffizienz im städtischen Kontext
Das Thema Nachhaltigkeit spielte für die Architekt:innen schon während der Entwurfsphase eine zentrale Rolle: „Die Bauwerke, die in der nächsten Bauphase entstehen werden, sind überwiegend als Holzbauten konzipiert und werden durch filigrane Stahlstützen ergänzt, um eine leichte, aber dennoch stabile Konstruktion zu schaffen. Durch eine Lebenszyklusanalyse in Zusammenarbeit mit Bollinger und Grohmann konnten die Betonfundamente dank der Stahlstützen auf ein Minimum reduziert werden – ein sowohl ökologisch als auch ökonomisch vorteilhafter Ansatz.“ In ästhetischer Hinsicht soll das Dachtragwerk aus Holz, mit geschwungenen und weit auskragenden Pergolen, Anklänge an die Architektursprache Oscar Niemeyers wecken, diese aber für den modernen Holzbau neu interpretieren. „Die großzügigen Dächer bieten ausreichend Fläche für Photovoltaikanlagen, um den gesamten benötigten Strom selbst zu erzeugen“, erklärt Neuner und fügt hinzu, „auch bei der Lüftung setzen wir, soweit es gesetzlich möglich ist, auf eine natürliche Fensterlüftung. Während dies in den Gasträumen problemlos realisierbar ist, wird in den Küchen eine zusätzliche Abluft benötigt, die jedoch ebenfalls auf ein Minimum reduziert werden konnte.“
Interaktion und Gemeinschaftsgefühl
Anders als in Wohngebieten gäbe es auf der Donauinsel keine direkten Anrainer und somit auch keine Gruppe, die einen unmittelbaren Anspruch für sich erheben könne: „Das bietet manchmal den Vorteil, freier in der Planung zu sein. Im Fall der Donauinsel sind es vielmehr Interessensgruppen, die den Ort für sich entdeckt und schätzen gelernt haben. Man kommt hierher, um allein oder gemeinsam seinen Hobbys, Interessen oder dem Dolce Far Niente nachzugehen.“ Um den Bedarf und die Nutzergruppen besser kennenzulernen, hatten die Architekt:innen die Donauinsel im Rahmen der Planung regelmäßig besucht, um Gespräche zu führen und Bedürfnisse zu verstehen und diese optimal in das Nutzungskonzept zu integrieren. „Unser Ziel ist es, einen Ort zu gestalten, der den vielfältigen Bedürfnissen einer breiten Nutzer:innengruppe gerecht wird – von Familien über Freizeitsportler:innen bis hin zu Erholungssuchenden. Im ersten Bauabschnitt sind wir diesem Ziel bereits sehr nahe gekommen. Von vielen Wiener:innen haben wir gehört, dass die Donauinsel in diesem Sommer zu ihrem Lieblingsort geworden ist“, zeigt sich Neuner erfreut.
Auf die Frage, ob sich aus dem Projekt Pier 22 Lehren für zukünftige städtische Entwicklungsprojekte ziehen ließen, sagt Neuner: „Das Potenzial des öffentlichen Raums rückt zunehmend in den Fokus der Architektur und Stadtplanung. Digitalisierung und neue Technologien ermöglichen eine innovative Organisation und Nutzung – öffentlicher Raum wird zu einer gemeinschaftlichen Ressource. Dieses Potenzial haben wir intensiv untersucht und dazu Grundlagenforschung betrieben. Das Ergebnis ist unser Common Space Stadtmodell, das Möglichkeiten für eine gemeinschaftliche Nutzung des öffentlichen Raums aufzeigt.“ In diesem Modell wird der öffentliche Raum als eine Art gemeinsames Wohnzimmer betrachtet. Der Vorteil für Neuner: „Je mehr Menschen diesen Raum nutzen, desto hochwertiger können die Outdoor-Bereiche gestaltet und ausgestattet werden.“ Die Herausforderung bestehe dabei darin, Rücksicht auf andere Nutzer:innen zu nehmen – und zwar nicht als Verzicht, sondern als gerne gelebte Umsicht. Diesen Prozess zu gestalten – auch als unsichtbare Architektur – sei ein wesentlicher Teil der Arbeit von Mostlikely Architecture. „Im Idealfall entsteht daraus die Einsicht: Dieser Ort bietet uns allen einen inklusiven Luxus, der es wert ist, geschätzt und gepflegt zu werden.“
Pier 22 kann in diesem Sinne als ein Pionierprojekt verstanden werden, das von vielen mit Interesse verfolgt wird. „Wenn sich diese Wertschätzung und der achtsame Umgang mit dem öffentlichen Raum etablieren, eröffnet sich uns Planenden die Möglichkeit, öffentliche Räume neu zu imaginieren und verstärkt als hochwertig ausgestattete, gemeinschaftliche Lebensräume zu gestalten“, ist sich Neuner sicher.
Pier 22
Donauinsel Wien, Österreich
Bauherr: MA 45 – Wiener Gewässer
Planung: Mostlikely Architecture
Team: Mark Neuner, Marlene Lötsch, Christian Höhl, Felix Redmann, Irina Nalis, Paul Feustel, Ritger Traag, Xinxin Qiu, Alexander Fischer
Design Konsulent: Quirin Krumbholz
Statik Freiraum & Verkehrsplanung: AXIS
Statik Gebäude: Bollinger + Grohmann, Axis
Pflanzplanung: DnD
Fläche: 18.000 m2
Planungsbeginn: 2022
Bauzeit: 7 Monate
Fertigstellung: Juni 2024
Text: Linda Pezzei
Fotos: Mostlikely Architecture / Felix Redmann
Kategorie: Projekte