Es lebe das Buch! – Calgarys Central Library
Calgarys Central Library / Calgary / Snøhetta und DIALOG
Aaron Betsky, Präsident der School of Architecture in Taliesin (ehem. Frank Lloyd Wright School of Architecture) fragt sich öffentlich, warum nicht alle Bibliotheken so warm und freundlich sein können, wie diejenige, die Snøhetta und DIALOG in Calgary, Kanada realisiert haben. Er hält die Calgarys Central Library für ein „best practice“-Beispiel moderner Baudenkmäler. Man muss ja nicht gleich in derartige Begeisterung verfallen, aber das Bauwerk hat schon etwas an sich.
Eine neue (statt der alten) Bibliothek hat Calgary in Kanada bekommen. Entworfen von Snøhetta und DIALOG ist sie eine Bereicherung für das städtische und kulturelle Leben, aber auch ein Beweis, dass das Buch noch lebt und nicht komplett vom Digitalen verdrängt wird. Die Fassade der Architektur bietet von allen Seiten eine Hauptansicht und so ist die Bibliothek auch das verbindende Puzzle für zwei bisher getrennte Nachbarschaften.
Die Calgary Public Library (CPL) ist Teil eines der größten Bibliothekssysteme in Nordamerika, mehr als die Hälfte der Stadtbewohner von Calgary besitzen eine Dauerkarte für diese Institution – wahrscheinlich lesen die Kanadier mehr als die Europäer. Die Bibliotheksfläche wurde durch den Neubau auf 22.300 Quadratmeter vergrößert und nun erwartet man jährlich doppelt so viele Nutzer als bisher. Die Bücherei wird auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung des urbanen Lebens, der rapid wachsenden Stadt, bilden. Auch ist sie Calgarys größte Investition seit den Olympischen Spielen 1988 und somit signalisiert sie den Beginn eines neuen Kapitels im kulturellen und geistigen Leben für die Bevölkerung.
Städtebauliche Situation
Die Architektur befindet sich mitten in einer sehr komplexen städtebaulichen Situation: Eine in Betrieb stehende Bahnlinie durchquert das Grundstück von oben in eine tiefer liegende Ebene auf einer halbmondförmigen Trasse, sie teilt gleichzeitig Downtown und East Village. Als Antwort hoben die Planer die Eingangsebene über die abgekapselte Bahnlinie. Sanft geschwungene Terrassen – entsprechend den unsichtbaren Bahntrassen – schrauben sich im Herz des Baukörpers nach oben und erlauben den Menschen den Zutritt, von welcher Seite auch immer sie kommen, um in die Bibliothek zu gelangen. Außen liegende Amphitheater, die sich in die Terrassen einschmiegen, bieten Sitzplätze und auch Raum für Programme der Bibliothek. Als Portal und auch als Brücke verbindet der Baukörper nun die beiden, bis jetzt getrennten, Bezirke und etabliert visuelle und fußläufige Verbindungen zur jeweils anderen Seite.
Die Fassade
Die dynamische, dreifach verglaste Fassade ist in einem modularen System von Sechsecken komponiert. So soll sich der Anspruch der Bibliothek ausdrücken, alle Menschen einzuladen, denn Teile dieses Musters könnten als geöffnete Bücher, Schneeflocken, oder ineinander verschachtelte Häuser gelesen werden – sie verdeutlichen jedenfalls die Idee von Kollektiv und Gemeinschaft. Ansammlungen der hexagonalen Form verteilen sich auf der gekurvten Fassade, sie wechseln sich mit gesinterten Glasteilen und manchmal schillernden Aluminiumpaneelen ab. Wichtig ist auch, dass die gesamte Fassade rundherum mit dem gleichen Muster entworfen ist, so kann jede Seite der Architektur als Hauptansicht fungieren. Diese visuelle Sprache setzt sich auch in der Wegführung und Signalisierung in den Innenräumen der CPL fort.
Die kristalline Geometrie der Fassade wölbt sich über dem Eingang nach innen und gibt einen riesigen, mit Holz verkleideten Bereich frei, der die Besucher empfängt. Diese Umrahmung ist eine Referenz an die sogenannten Chinook-Wolkenbögen (Stratuswolkenformation), die für die Gegend typisch sind. Die Wölbung ist komplett mit Brettern aus dem Holz der roten Zeder gestaltet und mit ihrer doppelt gekrümmten Kurve gehört sie zu den größten Freiformflächen aus Holz auf der Welt. Die organische Form und Textur des Eingangs schafft es, das große Volumen der Architektur auf einen angenehmen und freundlichen Maßstab zu reduzieren. Von außen sichtbar fordert das Hauptatrium die Besucher zum Eintreten auf. So wie sich der Eingang zur Lobby und dem Atrium fortsetzt, so zieht sich auch das Holz in seiner Gestaltung und Anwendung mittels einer Spiralbewegung über 25 Meter nach oben zu einem Auge in den Himmel. Holzlamellen zeichnen den Umfang des Atriums wie bei spitzen Ellipsenbögen – sie dienen einer schnellen Orientierung für die Besucher, um einen Überblick über die Wegführung und innere, organisatorische Logik der Bibliothek zu erlangen.
Weiters sind im Inneren die Stahlbetonoberflächen unbehandelt gelassen: Sparmaßnahme oder Open-End-Anspruch? Der Rhythmus der tragenden Balken und Säulen erinnert laut Aussage der Architekten an die Stoa, als einen Platz des Zusammentreffens und des intellektuellen Austausches. Diese Bezeichnung geht auf eine Säulenhalle auf der Agora, dem Marktplatz von Athen zurück. Auch so lässt sich Bedeutung und Wichtigkeit in ein Projekt hineininterpretieren. Die Einfachheit der Materialpalette in der Architektur soll den Menschen den Sinn vermitteln, dass die Bibliothek ein Ort der Arbeit und Aufmerksamkeit ist und nicht ein sakrosankter Bücherspeicher.
Zeit zum Lesen
Nach den Kriterien von Vergnügen bis ernste Seriosität sind die Bibliotheksprogramme dermaßen organisiert, dass lebhaftere Publikumsaktivitäten eher in den unteren Ebenen stattfinden. Graduell bewegen sich die Bereiche für Studieren und Ruhe spiralförmig nach oben. Auf der Straßenebene befinden sich eine Reihe von Mehrzweckräumen, welche die Verbindung zwischen innen und außen schaffen. Im Mezzanin bietet eine Kinderbibliothek mit Spielhäusern Raum für Handarbeit und Zeichenaktivität, Leseübungen und einen Indoor-Spielbereich. Die gesamte Kinderabteilung ist farbenfroh, mit grafischen Tapeten und maßgefertigten Möbeln in kindgerechten Dimensionen gestaltet.
Auf den sechs oberen Ebenen häufen sich eine Menge Bereiche für analoges und digitales Studieren, Lesen und individuelle Interaktionen. Auf der obersten Ebene befindet sich der große Lesesaal der öffentlichen Bibliothek. Er ist als eine Art Schmuckstück im Gebäude angelegt und bietet Raum für gezieltes Studieren und Inspiration. Man betritt ihn über einen Transitionsbereich mit abgedämpftem Licht und geringer Geräuschkulisse. Sein Inneres wird von senkrechten Holzlamellen abgetrennt, sie gewähren Privatheit und auch Transparenz und definieren die Grenze zwischen innen und außen, ohne massive Wände zu benutzen. Naturlicht tritt durch die Lamellen ein und sie ermöglichen auch eine Sichtachse zwischen dem Atrium und der Westfassade.
Am nördlichsten Punkt der Architektur gelangt man in das „Wohnzimmer“ der Bibliothek: Hier überblickt der Besucher die Bahntrassen und den Treffpunkt der zwei Nachbarschaften Downtown und East Village. Lichtgefüllt und voller Aktivität ist dieser Punkt nicht nur die Markierung und Signal für den Aufbruch nach vorne, sondern auch ein Ort um rückwärts zu blicken, auf den Einfluss dieser Architektur für die Entwicklung der Stadt Calgary und ihrer Bürger.
Calgary‘s Central Library
Calgary, Kanada
Bauherr: Calgary Municipal Land Corporation (CMLC)
Design Architect: Snøhetta
Executive Architect: DIALOG
Statik: Entuitive
Grundstücksfläche: 22.300 m2
Planungsbeginn: 06/2013
Bauzeit: 05/2015 – 11/2018
Fertigstellung: 11/2018
Baukosten: 164 Mio. Euro
Fotos: Michael Grimm
Text: Peter Reischer
Kategorie: Projekte