Für den Rest des Lebens
Mit Labri hat sich ein Eigentümerehepaar im vietnamesischen Hue vor Antritt der Rente ein kleines Paradies geschaffen, ein Stück wilde Natur inmitten von Beton und Blech. Architekt Nguyen Quang Khai entwickelte für das 100 m2 große Grundstück am Ende einer kleinen Gasse und umgeben von dichter Wohnbebauung, sowie angrenzend an einen größeren Teich, ein eindrucksvolles Konzept aus Beton, Glas und lebendiger Vegetation.
„Wir hoffen, ein Haus zu bauen, in dem meine Frau und ich den Rest unseres Lebens glücklich und zufrieden gemeinsam verbringen können“, besiegelte der Eigentümer von Labri im vietnamesischen Hue zu Beginn des Projekts die Zusammenarbeit mit Nguyen Quang Khai. Entstanden ist ein geheimer Unterschlupf, ursprünglich und wie zufällig gewachsen – gleich einem Baum, der aus der Erde dem Himmel entgegenstrebt.
„Labri“ bedeutet soviel wie „geheimer Unterschlupf“ und dieser ist in diesem Fall weder auf der Karte noch in der Realität leicht zu finden. Verirrt sich doch ein Besucher hierher, so trifft dieser auf ein Haus, das in keinster Weise den gängigen Vorstellungen entspricht, das noch nicht einmal von Menschenhand geschaffen scheint. Wie ursprünglich und wild gewachsen fügen sich vier transparente Kuben zu einem großen Ganzen zusammen. Jeder dieser Kuben ist in drei Schichten gehüllt: ganz außen Glas, dann grüne Rankengewächse und zuletzt Beton. Die Dächer sind mit Frangipani-Bäumen bepflanzt.
Die ausschließlich ebenerdig situierte Wohnfläche von nur 55 m2 wirkt aufgrund der geschickten Anordnung und der Transparenz weit größer und so ist das Grundstück nicht nur für zwei Menschen, sondern auch für Vögel, Schmetterlinge und Bäume ein Zuhause. Die Hauptrolle spielt dabei der heimische Frangipani oder Tempelbaum, der im Frühjahr blüht, im Sommer belaubt ist und im Winter die Blätter abwirft. Die Pflanze fungiert als natürliche Klimaanlage: während der Trockenzeit breitet sie ihre Zweige aus, um das Haus vor der intensiven Sonneneinstrahlung zu schützen. Die Regenzeit mit ihren Stürmen und starken Regenfällen überstehen die kahlen Frangipani-Bäume hingegen still und unbeschadet.
Auch der Lauf der Sonne wurde bei der scheinbar willkürlichen Anordnung der in verschiedenen Winkeln zueinander gedrehten, bepflanzten Kuben beachtet. Am Morgen fällt das Sonnenlicht langsam und sanft ins Innere, am Mittag wird die intensive Sonneneinstrahlung durch die hohen Bäume und überdachten Gärten abgeschirmt und am Nachmittag filtern die Pflanzenschichten zwischen Vorgarten und Innenraum, gleich einem gewachsenen Rollo, das Sonnenlicht. Dazu kommt eine natürliche Lüftung in horizontaler und vertikaler Ebene: Drehtüren und -fenster helfen dabei, den vorhandenen Windstrom effektiv zu kontrollieren, kleine Oberlichter sorgen dafür, dass die warme Luft über das Dach entweichen kann.
Neben Beton und Glas wirkt die Bepflanzung selbst wie ein weiteres primäres Baumaterial. Dieses macht Labri in den Augen der Architekten erst komplett. Grüne und nachhaltige oder wiederverwertete Elemente wurden in diesem Zusammenhang bei jedem Aspekt des Designs berücksichtigt. Die größte Herausforderung beim Bau bestand im Transport aller Materialien durch die sehr schmale, nur zwei Meter breite Zufahrtsgasse, was einen erheblichen Teil an Handarbeit erforderte. Diese Hingabe scheint man beim Betrachten von Labri regelrecht zu spüren – alles wirkt poetisch, der Welt entrückt und dennoch leben die Bewohner hier ihren ganz normalen Alltag – Klimaanlage, Kühlschrank und Plattenspieler inklusive.
Aus räumlicher Sicht sind alle Kuben untereinander durch schmale Wege verbunden und deren Dächer über fest installierte Leitern zugänglich. So gleicht ein Spaziergang auf dem Dach des Hauses einer Wanderung durch ein sanftes Gebirge: Unter den „Bergen“ liegen „Höhlen“ – sicher und kühl, dabei alles andere als einsam und finster. Es handelt sich um Höhlen aus Glas, die stets in Verbindung mit dem natürlichem Licht der Sonne und dem Hauch des Windes stehen und den Bewohnern als Zufluchtsort und trostspendender Rückzugsraum dienen sollen.
Jeder der Kuben hat eine eigene Funktion und deckt die Grundbedürfnisse der Bewohner ab: Wohnen und Essen, Kochen, Baden und Schlafen. Und obwohl das Hauptaugenmerk auf der umgebenden Natur liegt, spielt im Inneren dennoch auch die Ästhetik keine unbedeutende Rolle. In Labri gibt es keine Grenzen – keine Innenwände, die Räume voneinander trennen, und keine Außenwände, die das Haus von der Umgebung abschirmen. Gleich einem Wald blitzen so beim Blick in das „Dickicht“ flüchtige Momentaufnahmen vor den Augen der Betrachter auf: von der Küche scheint der Schlafraum nicht weit, vom Vorgarten aus der Hof zum Greifen nah und selbst das Blätterdach der Frangipani-Bäume ist von jedem Standort aus ersichtlich. Nachts im Bett begleiten die Liebenden der Mond und die Sterne, an Regentagen können die Bewohner dabei zusehen, wie die schweren Tropfen langsam auf dem Glas zum Boden gleiten.
In Labri scheint die Zeit stillzustehen. Kein Wunder: die Intention Nguyen Quang Khais lag darin, einen Ort zu erfinden, an dem Haus und Umgebung zu einer Einheit verschmelzen können und ein Zuhause zu erschaffen, in dem es möglich ist, ganz so wie in vergangenen Zeiten im Einklang mit der Natur zu leben.
Labri
Hue City, Vietnam
Bauherr: Mr. Tran Viet Thanh and Mrs. Phan Thi My Anh
Planung: Nguyen Quang Khai
Grundstücksfläche: 100 m2
Bebaute Fläche: 55 m2
Nutzfläche: 55 m2
Planungsbeginn: 06/2020
Bauzeit: 6-7 Monate
Fertigstellung: 02/2021
Baukosten: ca. 73.000 USD (ca. 71.000 EUR)
Text: Linda Pezzei
Fotos: Hiroyuki Oki
Kategorie: Projekte