Gedächtnis und Avantgarde

10. April 2024 Mehr

Das Projekt Archiv der Avantgarden erwächst laut Nieto Sobejano Arquitectos aus dem Dialog zwischen Gedächtnis und Avantgarde, repräsentiert durch das Gebäude und die darin enthaltene Sammlung, übersetzt in das Einfügen eines schwebenden Kubus, welcher das Archiv beinhaltet und alle umgebenden Flächen für eine flexible Nutzung als Ort öffentlicher Veranstaltungen, Ausstellungen, Workshops und Konferenzen freihält.

 

Archiv der Avantgarden Dresden, Deutschland

 

In Dresden ist das freistehende Gebäude der Neustädter Wache aus der Feder des Architekten Zacharias Longuelune gemeinhin unter dem Namen Blockhaus bekannt. An der Westseite des Neustädter Brückenkopfes der Augustusbrücke sowie am Neustädter Markt gelegen, befindet sich der markante Bau unmittelbar an der Elbe und nur wenige Meter vom Goldenen Reiter entfernt. Zahlreiche Transformationen sowie ein Wiederaufbau in den 1970er-Jahren nach schwerer Beschädigung im Zweiten Weltkrieg und die Elbflut im Jahr 2013 ließen das Gebäude aus dem Jahr 1732 ohne Nutzer zurück – bis das Blockhaus 2017 als potenzieller Standort für die Unterbringung der Sammlung Egidio Marzonas als Archiv der Avantgarden ausgewählt und ein entsprechender Architekturwettbewerb ausgelobt wurde, den Nieto Sobejano Arquitectos für sich entscheiden konnten. 

 

Archiv der Avantgarden Dresden, Deutschland

 

Eine Zielvorgabe des Projektes war es, das Archiv sowohl für Fachleute als auch für die die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Die wesentliche Herausforderung für den Entwurf bestand darin, einen scheinbaren Widerspruch aufzulösen: eine Sammlung zu den vorwärts gerichteten Strömungen der Avantgarde in einem Gebäude des Barock zu archivieren“, erinnern sich Enrique Sobejano und Fuensanta Nieto. Der Entwurf nimmt in diesem Sinne diese Gegensätzlichkeit konstruktiv an und generiert daraus eine Stärke. „Der denkmalgeschützte Bestand wird respektiert und bildet einen Rahmen, die Sammlung das Zentrum des Gebäudes. Zwischen dem Alten und dem Neuen entsteht ein Spannungsfeld, in dem sich das Archiv der Avantgarden entfalten kann“, so die Architekten. 

 

Archiv der Avantgarden Dresden, Deutschland

 

Material und Formensprache

„Da sich die barocke Hülle stark gegliedert, bisweilen kleinteilig und verziert präsentiert, lag es in unserem Sinne, mit dem Neubau im Inneren einen Gegenpol abzubilden“, legen Nieto und Sobejano dar. Zu diesem Zwecke wurden die Formen einfach und geometrisch klar gehalten. Das Herzstück des Projekts bildet der Kubus, dessen Form sich von der Grundform des Gebäudes ableiten lässt. „Er schwebt frei im Zentrum. Darunter und darum haben wir freie, flexibel nutzbare Flächen geschaffen“, so die Architekten. Lediglich vier Erschließungselemente gliedern den offenen Raum: Die bestehende Loggia als Eingangssituation, zwei Erschließungskerne sowie eine repräsentative, skulpturale Wendeltreppe.

Auch hinsichtlich der Materialien reduzierten sich die Gestalter auf ein Minimum. Der in weiß gehaltene Bestand aus Sandstein bildet einen weichgezeichneten Hintergrund für die neuen Ergänzungen in Sichtbeton. Diese dürfen in ihrer Rohheit eine gewisse Härte und Radikalität ausstrahlen, die dank der gewählten Bretterschalung jedoch gleichzeitig weich und auf subtile Art detailliert anmutet. „Um den Gegensatz zwischen Alt und Neu zu verstärken, haben wir besonderen Wert darauf gelegt, dass beide Elemente präsent sind, sich nahe kommen und miteinander wirken, sich aber nie direkt berühren“, erklären die Architekten die Entscheidung für ein drittes Material in Form von beschichtetem, dunklem Metall, welches sich gegenüber der weißen Hülle und dem hellen Beton dezent zurücknimmt.

 

Archiv der Avantgarden Dresden, Deutschland

 

Eine besondere Herausforderung während des Planungsprozesses bestand auch darin, die denkmalgeschützten Außenwände sowie das Dach in ihrer Erscheinung zu bewahren. „Im Sinne der Umsetzung unserer Vision der Kontroverse zwischen dem Alten und dem Neuen bei gleichzeitiger Klarheit der Formen und dem Schaffen offener, frei nutzbarer Flächen, war ein Erhalt der nachträglichen Einbauten nicht sinnvoll umsetzbar“, erklären Nieto und Sobejano die Vorgehensweise, nur die Originalsubstanz in Form der Außenwände zu erhalten und das Gebäude innen vollständig freizuspielen, um so Platz für eine bestmögliche Umsetzung des neuen Raumkonzeptes zu schaffen. Um dies zu ermöglichen, wurde das in den 1970er-Jahren ergänzte Dach abgenommen und später in enger Abstimmung mit der Denkmalpflege wiederhergestellt.

 

Betontreppe im Archiv der Avantgarden in Dresden, Deutschland

 

Herausforderungen und Lohn der Mühen

Da sich die Planungs- und Bauzeit von 2018 bis 2023 erstreckte, erwiesen sich äußere Umstände wie die Coronapandemie sowie der Beginn des Krieges in der Ukraine, verbunden mit hohen Krankenständen und enormen Preisschwankungen als unerwartete Schwierigkeiten im Zuge der Umsetzung. „Darüber hinaus stellten uns die hohen Anforderungen an die Sichtbetonbauteile auf eine besondere Probe“, erinnern sich die Architekten an die Komplexität der Maßnahmen zurück, die zum Erreichen eines einheitlichen Sichtbetonbildes unter den gegebenen Bedingungen notwendig waren. „Die speziellen Geometrien sowie der Umstand, dass ohne Dach über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr betoniert werden musste, konnten allein durch die Entwicklung individueller Betonmischungen und Sonderschalungen bewältigt werden. Hinzu kam ein umfangreicher Bemusterungsprozess, um die gewünschte Optik zu erzielen.“

Die laufenden Optimierungsmaßnahmen haben sich – freuen sich Enrique Sobejano und Fuensanta Nieto im Nachgang – letztlich bezahlt gemacht: „Die Stadt Dresden stellt hinsichtlich des Miteinanders von Alt und Neu einen besonderen Ort für uns dar. Die Stadt hat große Zerstörung erlebt und verfügt gleichzeitig über ein reiches Erbe an historischen Gebäuden. Für den Wiederaufbau wurden über die Zeit – und werden auch noch heute – sehr unterschiedliche Ansätze verfolgt, welche jeweils kontrovers diskutiert werden. Wir freuen uns, dass wir in diesem Kontext einem historischen Gebäude Leben einhauchen und gleichzeitig etwas Neues schaffen konnten. Alt und Neu bestehen hier nicht nur nebeneinander, sondern bilden ein sich unterstützendes und stärkendes Miteinander.“

 

Archiv der Avantgarden Dresden, Deutschland
Dort wo die alten, in weiß getauchten Außenmauern auf die neu hinzugefügten Betonelemente in ihrer Bretterschalungsoptik treffen, entsteht ein spannungsgeladenes Zusammenspiel von Tradition und Modernem.

 

Zu sehen gibt es im Archiv der Avantgarden unter anderem etwa 1,5 Millionen Objekte, Zeichnungen, Pläne und Möbelstücke – ein Geschenk Egidio Marzonas, das der italienische Kunstsammler, Mäzen und Verleger im Jahr 2016 den Staatlichen Kunstsammlungen machte. Die Sammlung bildet ein wertvolles und heterogenes Erbe jener künstlerischen Strömungen, welche stets eine Vorreiterrolle in Kunst und Architektur einnahmen. Darunter der Futurismus, Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus, die durch Institutionen wie Werkbund, Bauhaus, HfG Ulm oder Black Mountain College repräsentiert werden. So darf man die feine Provokation und das Gedankenspiel, das der Institutionsname impliziert, in diesem Projekt durchaus als Ausgangspunkt verstehen – auch und gerade im Rahmen des eigenen Besuchs des rund 2.000 Quadratmeter großen Archivs.

 

 

Archiv der Avantgarden
Dresden, Deutschland

Bauherr: Staatsbetrieb Sächsisches Immobilien- und Baumanagement – Niederlassung Dresden I
Planung: Nieto Sobejano Arquitectos
Projektleitung: Roman Bender, Kirstie Smeaton
Projektteam: Clemens Ahlgrimm, Lucia Andreu, Anna-Lena Berger, Michal Ciesielski, Lorna Hughes, Vissia Portioli, Sebastian Saure, Ina Specht, Kathi Weber, Claudia Wulf
Wettbewerbsteam: Jean-Benoit Houyet, Anastasia Svirski
Projektsteurung: tp management GmbH, Leipzig
Tragwerksplanung: Wetzel & von Seht, Hamburg

BGF: 3.744 m²
Planungsbeginn: 2018
Bauzeit: 2019 – 2023
Fertigstellung: 2023

www.nietosobejano.com

 

 

Text: Linda Pezzei
Fotos:Roland Halbe, Klemens Renne

Kategorie: Projekte