Gläserne Krone

21. September 2022 Mehr

Neben 103 Wohnungen, einem Co-Working-Space und einem Café finden auch Tagungsräume sowie ein Concept Store Platz in in dem neuen dreizehnstöckigen Gebäude der Buckle Street Studios im Londoner Stadtteil Whitechapel. Das New Yorker Design Studio Grzywinski+Pons zeichnet neben der Architektur auch für das gesamte Interior Design und einen Großteil der Möbel verantwortlich. Besonderer Hingucker: die Fassadengestaltung.

 

 

Im Zuge ihres Entwurfs der Buckle Street Studios im Londoner Stadtteil Whitechapel sah sich das Planungsteam des New Yorker Design Studios ­Grzywinski+Pons mit einem Standort konfrontiert, der geprägt ist durch ein dichtes Konglomerat von Gebäuden, die sich sowohl in ihrer Größe als auch ihrem Stil unterscheiden. Niedrige, denkmalgeschützte Gebäude befinden sich in direkter Nachbarschaft zu modernen Hochhäusern und definieren das sogenannte Londoner East End östlich des mittelalterlichen Stadtkerns und nördlich der Themse. Arbeiterviertel trifft hier auf hippes Szenequartier. Matthew Grzywinski wurde schnell klar: Der geplante dreizehnstöckige Neubau sollte unbedingt als Bindeglied zwischen den Welten fungieren.

 

 

„Während des Planungsprozesses arbeiteten wir von Anfang an eng mit den städtischen Behörden zusammen, um sicherzustellen, dass unser Entwurf die angestrebte Rolle eines architektonischen Vermittlers sowohl in Bezug auf das Gebäudevolumen als auch auf die Gliederung der Fassade erfüllt“, sagt Grzywinski. „Wir waren uns unserer Verantwortung bewusst, den größeren städtebaulichen Kontext unseres Standorts zu berücksichtigen, und haben in diesem Sinne Materialien spezifiziert und unsere Formensprache definiert, um den architektonischen Clash zwischen den kleineren historischen Gebäuden zu den jüngeren Hochhäusern zu mildern.“

 

 

Entstanden ist ein einprägsames, elegantes Bauwerk, das sich sanft in den bestehenden Block einfügt. In seinem äußeren Erscheinungsbild zum einen geprägt durch die runden Ecken, zum anderen definiert durch die stringente vertikale Gliederung. „Wir übertrugen einen Großteil der strukturellen Lasten auf einen expressionistischen Parabelbogen von doppelter Höhe, während wir uns gleichzeitig von den Rundbogenfenstern, bogenförmigen Gesimsen und abgerundeten Ziegeln der historischen Gebäude in den benachbarten Straßen inspirieren ließen“, erklärt Grzywinski die Herangehensweise.

 

 

Um das Gebäude mit zunehmender Höhe heller und transparenter erscheinen zu lassen, setzten die Architekten auf eine stufenweise Gliederung und eine Teilung des Volumens in drei Abschnitte. Aufgrund der eingeschränkt zur Verfügung stehenden Grundfläche griffen Grzywinski+Pons anstelle von formalen Rücksprüngen auf eindrückliche, aber geordnet vorgenommene Materialwechsel über alle Schichten des Gebäudes hinweg zurück, um in Folge einen Giebel und eine Krone abzubilden. Die Materialwahl und -verarbeitung war letztlich ausschlaggebend für den gesamten optischen Eindruck der Fassade.

 

 

Der Sockelbereich wurde mit gealterten, vernickelten Metallpaneelen in Form von unterschiedlich dimensionierten, vertikal positionierten Kassettenelementen verkleidet, die gleichermaßen als Brüstungsabdeckungen und kunstvoll gestaltete Lüftungsgitter fungieren und die geschichtete Fassade harmonisieren. „Unsere moderne Interpretation einer progressiven, geordneten Skalierung“, so Grzywinski. Über diesem ersten Giebel schließen warmgraue Handstrichziegel mit vorspringenden Lisenen an, die in ein Gesims am Fuß der Krone münden und einen erneuten Materialwechsel einläuten. Die Lisenen und die raffinierten Anknüpfungspunkte verleihen der ohnehin strukturierten Gebäudehülle zusätzlich Plastizität und Tiefe.

 

 

Der krönende Abschluss der Buckle Street Studios entspricht in seinen Proportionen dem Sockel und wurde vollständig mit Glasbausteinen verkleidet. Durchscheinend, hell und leicht wirkt dieser Teil nahezu entmaterialisiert und scheint nahtlos in den Himmel überzugehen. Die Wohnungen in diesem Bereich verfügen über Fenster mit Ausblick über die Stadt sowie Fassadenflächen, durch die das durch die Glasbausteine gefilterte Licht gedämpft nach innen fällt und eine einmalige Atmosphäre schafft. Auch um eine maximale thermische und akustische Effizienz zu erreichen, besteht die Hülle der Krone aus zwei Wänden, wobei die Außenhaut sowohl als Brüstung als auch als Fassade dient. Die erforderlichen haustechnischen Geräte auf dem Dach ließen sich durch eine entsprechende Überhöhung vollständig verdecken, während die Lichtdurchlässigkeit der Glaselemente einen diffusen und sanften Abschluss des oberen Teils des Gebäudes in der Vertikalen erzeugt. Trotz dieser Leichtigkeit mutet dieser Gebäudeteil ebenso wie der darunter liegende schwere Ziegelstein extrem haptisch und dauerhaft an. „Das Volumen erscheint solide und flüchtig zugleich, während die Bewohner durch die Aktivierung der Innenräume ein natürliches kinetisches Leuchten erzeugen“, erklärt Grzywinski.

 

 

Die Planer nahmen die Gelegenheit dankbar wahr, sowohl die Konstruktion als auch die Innenräume gestalten zu dürfen, um schließlich einen umfassenden Raumeindruck auf Basis des ambitionierten architektonischen Konzepts kreieren zu können. Gerade auf den öffentlichen Flächen des Projekts ist diese Inte­gration von innen nach außen für die Architekten von grundlegender Bedeutung: „Das wichtigste strukturierende Element dieser Bereiche ist der parabolische Bogen. Er ist von der Straße aus durch eine großflächige Verglasung sichtbar und stützt und definiert das Zwischengeschoss im Inneren des erdgeschossigen, überhöhten Raums, während er gleichzeitig die Last der vorderen Hälfte des Gebäudes aufnimmt.“ Dieser strukturelle Expressionismus wird durch eine integrierte Holzbalustrade sowie geriffelte Verkleidungen, warmen Lehmputz, wallende Vorhänge und die zarte Möblierung abgemildert. In Anlehnung an die Fassade wurden die Fußböden und Sockelleisten der Einbaumöbel mit eben jenen Ziegeln verkleidet.

 

 

Den Concept Store im Erdgeschoss definieren Vitrinen aus rautenförmigen, mit Porzellan und Glas verkleideten Volumina, die die kuratierten Produkte in Szene setzen. Großzügig geschwungene und gepolsterte Sitzbänke, weiche Sofas und Poufs laden zum Verweilen ein. Die Gestaltung befindet sich – passend zum Inhalt der Vitrinen – an der Schnittstelle zwischen Kunst und Kommerz. Der Raum, der zu gleichen Teilen als Galerie, Lounge, Café, Shop und Wohnzimmer fungiert, wirkt ebenso einladend wie undefinierbar – eine gewünschte Intention der Architekten: „Wir hoffen, dass sich die Passanten gezwungen sehen, hineinzugehen, um zu erfahren, was genau das ist, und dass sie sich dann wohl fühlen und eine Weile bleiben.“

 

 

Während sich in den Buckle Street Studios öffentliche und private Räume grundsätzlich verzahnen, beginnen sie sich in Richtung der Krone mit den Wohneinheiten dennoch mehr und mehr von dem bunten Londoner Trubel zu abzugrenzen – auch wenn eine gewisse Offenheit durch die schimmernden Glasbausteine stets bewahrt bleibt. Hier kommen der Reiz und der Nutzen der leuchtenden Glasverkleidung in den Innenräumen voll zur Geltung, deren Anmutung von Licht und Wärme geprägt sind. Helle Holzböden, erdfarbener Lehmputz, cremefarbener Stein und samtige Nude-Töne verleihen dem Interior einen hochwertigen und einladenden Charakter.

 

 

„Für uns als Architekten und unseren Bauherrn fördert dieses Projekt auch die gleichermaßen urbane wie persönliche Auseinandersetzung von Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Bewohnern und Besuchern. Diese Mischung ist der Stoff, aus dem so viele der erfolgreichsten und lebendigsten Gemeinden Londons gemacht sind“, bringt Grzywinski seine Motivation auf den Punkt. Whitechapel darf sich jedenfalls über einen rätselhaften und doch verlockenden öffentlichen Raum freuen, der einen integrativen und einladenden Kontext eröffnet, in dem die Gemeinschaft und die Besucher miteinander interagieren und sich gegenseitig inspirieren können – und sollen.

 

 

Buckle Street Studios
London, Großbritannien

Bauherr: Oaktree Capital
Planung: Grzywinski+Pons
Mitarbeiter: Matthew Grzywinski, Amador Pons
Statik: Manhire Associates

Nutzfläche: 3.530 m2
Planungsbeginn: 2018
Bauzeit: 2 Jahre
Fertigstellung: 2022

www.gp-arch.com

 

Text: Linda Pezzei
Fotos: Nicholas Worley

 

Kategorie: Projekte