Hommage an den Sichtbeton
Innovation bedarf immer auch einer Portion Mut – und des richtigen Partners für die Umsetzung. Diesem Motto folgt das indische Architekturbüro Samira Rathod Design Atelier, kurz SRDA. Mit dem Bauherrn des „Hauses der Betonexperimente“ fand das Studio den idealen Verbündeten. Anstatt sicherer Standardlösungen setzt der Entwurf auf experimentelle Techniken und sorgt dafür, dass der Neubau seinem Namen alle Ehre macht.
Mit dem Wohnhaus realisierte das Planerteam in Alibag, einer Küstenstadt 30 km südlich von Mumbai, bereits das zweite Projekt für den experimentierfreudigen Eigentümer. Dort fügt es sich in einen Hain aus Mangobäumen ein. Die Vegetation beeinflusste den Entwurf maßgeblich: Bäume wurden keine gefällt, stattdessen antwortete man mit einer zerklüfteten, mäandernden Kubatur auf die Umgebung. Nun wirkt es so, als würden sich die Trakte des Hauses zwischen den Stämmen selbst wie Äste verzweigen. Auch die Topografie des Grundstücks nutzte man und funktionierte eine Grube zu einem tiefergelegten Platz um. Grün bewachsen sollen hier künftig Wohnraum und Natur miteinander verschmelzen.
Das Haus setzt sich aus mehreren Trakten zusammen. Sie spannen bepflanzte Außenbereiche auf und docken an das zentrale Hauptgebäude an. In ihm befindet sich ein großzügiger, atelierartiger Raum, der mit seinen hohen Decken als offener Wohn-Essbereich mit Bar und Büro dient. Das Schlafzimmer stellt zugleich den Übergang zum ersten von zwei Annexbauten dar. Dieser beinhaltet ein langgezogenes Bad mit Blick in die Natur. Küche, Lager und administrative Räume sind in einem weiteren, direkt anschließenden Nebenvolumen untergebracht. Den Abschluss bilden ein separates, zweigeschossiges Gästehäuschen, welches über einen gepflasterten Weg erreicht wird, sowie ein länglicher Pool, der sich außen an das Betonhaus legt.
Sowohl bei der Konstruktion als auch bei der Gestaltung des Einfamilienhauses entschieden sich die indischen Architekten für ein einziges Material: Beton. Die Tragstruktur folgt dabei keinem regelmäßigen Raster, sondern erhält einen fast skulpturalen Charakter. So überspannt die Betondecke im Haupthaus den gesamten Raum stützenfrei und ganz ohne Zwischenwände. Die Außenwände sind zwischen 45 cm und einem Meter dick, bieten integrierten Stauraum und unterstützen zudem einen energetischen Low-Tech-Ansatz. Inspiriert von einer traditionellen Technik tragen die massiven Mauern zur natürlichen Klimatisierung des Gebäudes bei: Durch Kanäle in den Wänden zirkuliert frische Luft durch das gesamte Haus. Sie kühlt Räume und Beton und sorgt mithilfe der hohen thermischen Masse des Baumaterials dafür, dass die angenehme Temperatur auch gespeichert wird. Dachüberstände fungieren als zusätzliche passive Maßnahme und schaffen rund um das Gebäude schattige Bereiche. Große Öffnungen in der Fassade werden teils von schrägen Betonelementen vor der Sonne geschützt. Diese kragen wie Markisen weit aus und scheinen jeder konstruktiven Logik zu entbehren.
Bis auf wenige Ausnahmen – drei Stampflehmelemente und ein Ziegelgewölbe über dem Bett im Schlafzimmer – sind sämtliche Teile des Wohnhauses in Gussbeton ausgeführt. Das Material ist von den Böden bis hin zu den Decken recycelt und experimentell verwendet. Für den Beton nutzte man Schutt, Ziegelreste und Steine vom Aushub der Baustelle. Das schont Ressourcen und verleiht dem nackten Sichtbeton zudem eine raue Textur und eine unverwechselbare Optik. An den Wänden kombinierten die Architekten unterschiedliche Materialmischungen, Farben und Verarbeitungstechniken und zeigen so, wie facettenreich Beton sein kann. Sie experimentierten mit Zuschlagstoffen in diversen Größen und wassergestrahlten Abschnitten und erzeugten Oberflächen mit abwechslungsreicher Struktur, Haptik und Akustik. Während sich der massive Werkstoff im Gästehaus – gemixt mit rotem Ziegelmehl – in einem zarten Rosaton präsentiert, zoniert den Wohnraum eine mit schwarzen Pigmenten eingefärbte Ortbetonwand.
Die Fußböden sind in manchen Bereichen glatt geschliffen. In anderen Gebäudeteilen werden sie von upgecycelten Steinstücken in Schwarz, Weiß und Rosa sowie zerbrochenen Keramikfliesen und Marmor geschmückt, die sie wie ein riesiges Terrazzo-Kunstwerk wirken lassen. Im Haupthaus legen sich die länglichen Fragmente in sanften Wellen aneinander und zeichnen ein organisches, nahezu teppichartiges Mosaik auf den Boden. Neben dem Material spielen sowohl Licht als auch Schatten eine zentrale Rolle. Oberlichter in geometrischen Formen lenken die Sonnenstrahlen gezielt nach drinnen. Dort setzen sie die Betonoberflächen in Szene und schaffen in jedem Raum eine unverwechselbare Atmosphäre. Großflächige Verglasungen lassen das Haus hell und freundlich erscheinen und die Übergänge zwischen Innen und Außen fließend ineinander übergehen. Die nötige Wärme verliehen die Architekten dem Wohnhaus mit Akzenten aus dunklem Holz. Dieses kommt bei Fensterrahmen, Möbeln und Einbauten zum Einsatz und ergänzt den grauen Beton stimmig.
Das Haus der Betonexperimente ist eine wahre Hommage an den Sichtbeton. Neben glatt und rau zeigt sich der Baustoff hart und weich, aber auch ruhig und vielfältig. Er kreiert ebenso kühle, neutrale Bereiche wie auch intime Rückzugsorte. Samira Rathod und ihr Team gingen mit dem Projekt – zusammen mit dem Bauherrn – sowohl in der Planung als auch in der Konstruktion neue Wege. Dank wiederverwerteter Materialien ergänzten sie das Wohnhaus gleichzeitig um eine nachhaltige Komponente und machten es zur einzigartigen Beton-Skulptur, die inmitten der Landschaft erlebt, erfühlt, erhört und ertastet werden will.
Haus der Betonexperimente
Alibag, Indien
Bauherr: Privat
Planung: Samira Rathod Design Atelier
Statik: Studio Struct
HLKS: Nova Initiative
Nutzfläche: 465 m2
Planungsbeginn: 2018
Bauzeit: 3 Jahre
Fertigstellung: 2021
Text: Edina Obermoser
Fotos: Niveditaa Gupta
Kategorie: Projekte