Rebellion der Träumer
Im Zuge der Gestaltung der Fassade des landwirtschaftlichen Besucherzentrums „Kornets Hus“ im dänischen Hjørring ließen sich Reiulf Ramstad Arkitekter von der lokalen architektonischen Tradition der verwitterten Scheunen und alten Bauernhäuser faszinieren und inspirieren. Auch die vom Wind geschliffenen Bäume und der braune Boden, der sich bis zum Horizont erstreckt, trugen letztlich ihren Teil zu der einnehmenden Atmosphäre des Ortes bei.
Auf den ersten Blick erschien das Wettbewerbsprogramm recht einfach und unprätentiös, entpuppte sich aber bei genauerer Betrachtung als reichlich ambitioniert – in den Augen der ausführenden Reiulf Ramstad Arkitekter nahezu rebellisch. Der Bauherr wünschte sich auf dem flachen Stück Land im dänischen Hjørring ein relativ bescheidenes Gebäude von 600 Quadratmetern Fläche, das er als Besucherzentrum mit Ausstellungsflächen sowie einer integrierten Bäckerei, einer Boutique und eigenem Café nutzen wollte.
Seit Mitte der 1970er Jahre werden auf diesem Landstrich fast vergessene Getreidesorten auf der Grundlage biologischer Anbaumethoden kultiviert. Knapp fünf Jahrzehnte später schienen Zeit und Gesellschaft reif dafür, einen Schritt weiterzugehen. Das Ziel: die Entwicklung eines unabhängigen Wissens- und Erfahrungszentrums, das sich als Bindeglied zwischen nachhaltiger Lebensmittelproduktion und moderner Lebensweise versteht. Aber selbst in einem so fortschrittlichen Land wie Dänemark, dessen Fläche zu einem Großteil aus Ackerland besteht, wurde den Beteiligten bald klar, dass die Initiative „House of Grain“ nicht völlig unumstritten und auf ihre eigene Art und Weise Teil eines wachsenden ökologischen Kampfes in Dänemark war: Kleine, engagierte Unternehmen sehen sich dort, wie an anderen Orten, vermehrt mächtigen wirtschaftlichen und politischen Kräften ausgesetzt. Dennoch: Einer konservativen Agrar- und milliardenschweren Chemieindustrie zum Trotz – 2020 wurde das „Kornets Hus“ (zu deutsch „Kornkammer“) für die Allgemeinheit geöffnet.
„Es war keine unlösbare Aufgabe, das Raumprogramm für das „House of Grain“ auf einem Stück Pauspapier zusammenzufügen. Wir hatten von Anfang an das Gefühl, dass die funktionalen Anforderungen und Konstruktionsprinzipien eine einfache Lösung verdienen“, erklärt Architekt Reiulf Ramstad die grundlegende Herangehensweise an den Entwurfsprozess. Die größere Herausforderung bestand in der Reaktion auf den umfassenden Kontext, in dessen Spannungsfeld aus ökologischen und wirtschaftlichen Interessen sich Bauherr Jørn mit seiner Vision verstrickt sah. Die passende Antwort fanden die Architekten letztlich in einem Balanceakt zwischen den Extremen.
Nähert man sich dem L-förmigen Gebäude von außen an, so stechen neben der Farbgebung sofort die Materialität und die starke Aura des „House of Grain“ ins Auge. Die changierenden Brauntöne der Ziegel harmonieren nicht nur aufs Beste mit den umgebenden Feldern, sie spiegeln auch die fette Erde der ertragreichen Kulturlandschaft wider. In seiner Formgebung orientiert sich das „Kornets Hus“ auch an den Bauerngehöften der Umgebung. Die beiden Endpunkte des Besucherzentrums ragen, zwei Backöfen gleich, teleskopartig in den Himmel, definieren die räumliche Ausdehnung des Bauwerks, öffnen den Blick gen Himmel und holen auf diese Weise viel natürliches Tageslicht tief ins Gebäude.
Während sich das Bauwerk zur Rückseite hin eher verschlossen zeigt, öffnet sich das Innere über eine großzügige Terrasse hin zu den ausgedehnten Weizenfeldern im Westen. Um den großen Brotbackofen herum sind die öffentlichen Räume angeordnet, im Bereich der Lichtschächte positionierten die Architekten dagegen die Lehr- und Ausstellungsflächen, um die Raumhöhe und das lichte Ambiente optimal auszunutzen. Wände und Decken wurden allesamt gleich einer zweiten, verborgenen Fassade mit lebendig gemaserten Holzelementen verkleidet, die das Lichtspiel optimal aufgreifen und für eine warme und wohnliche Atmosphäre sorgen. Das „Kornets Hus“ – so scheint es – ist aus den keimenden Ambitionen des Bauherren heraus selbstbewusst zu einem stattlichen Organismus gewachsen.
3 Fragen an Architekt Reiulf Ramstad
Warum war eine so starke Formensprache in diesem Fall die richtige Antwort?
Nachdem wir uns mit dem Kunden getroffen und die fortschrittlichen Aspekte seiner Mission und Vision erkannt hatten, sahen wir uns gezwungen, einen gangbaren Weg zwischen den beiden dominierenden Positionen in der öffentlichen Debatte zu formulieren. Einen Weg zwischen Verleugnung auf der einen und apokalyptischem Umweltbewusstsein auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund erschien uns der Entwurf eines energieeffizienten Gebäudes unter Verwendung von recycelbaren Materialien und anderen technischen No-Fix-Lösungen irgendwie veraltet. Angesichts der Komplexität der Umstände, mussten wir uns vom konventionellen Designdenken lösen. Wir konnten uns nicht auf eine reflexartige Reaktion von Best-Practice-Technik und symbolischen Darstellungen guter Absichten verlassen. Wir verspürten den starken Wunsch, eine menschliche Antwort zu finden, und waren uns unsicher, ob Ästhetik als strategisches Instrument eingesetzt werden konnte oder nicht. Die Frage, die sich uns stellte, war, wie wir den stillen Aktivismus des Bauherrn in ein architektonisches Manifest umsetzen konnten.
Wie wichtig sind Ort und Kultur in Ihrem Entwurfsprozess?
Wir glauben, dass wir den Raum in vielen Dimensionen und Maßstäben erleben. Unserer Ansicht nach schließt ein globales Bewusstsein die Idee der lokalen Zugehörigkeit nicht aus und umgekehrt. Lokale Präsenz ist kein Gegensatz zu globaler Reichweite. Man kann sich auf dem Land genauso gut verstecken wie mitten in New York. Die Globalisierung hat die alte Dichotomie von Zentrum und Peripherie verzerrt. Kulturelle Erfindungen sind nicht mehr nur auf Großstädte beschränkt. Wir haben in der kleinen Stadt Åndalsnes, sechs Autostunden von Oslo entfernt, beispielsweise ein Bergsteigerzentrum errichtet, das eine Schar internationaler Anhänger anzieht und so zu Norwegens Epizentrum für eine aufstrebende globale Gemeinschaft von Bergsteigern geworden ist. Diese Verschiebung in der Kulturgeographie und die dynamische Realität dahinter interessieren mich. Wir glauben, dass lokale Traditionen durch Impulse von außen informiert und bereichert werden müssen, um zu überleben und zu gedeihen. Die Verankerung der Architektur in einem lokalen Kontext schließt ein größeres Bild nicht aus.
Welche Rolle spielten Licht und Material im Inneren des Gebäudes?
Das Gebäude ist um einen einfachen und flexiblen Grundriss herum organisiert, der eine Vielzahl von Aktivitäten und Funktionen zulässt. Die architektonische Form leitet sich aus der Erforschung der reichen Landschaft, der Volkskultur und des landwirtschaftlichen Erbes der Region ab – das Zentrum wird durch zwei mit Ziegeln verkleidete Lichtschächte definiert, welche die Bäckereiöfen neu interpretieren. Das Innere des Gebäudes ist so geplant, dass es sich zu den weiten Weizenfeldern im Westen hin öffnet und den Blick nach außen auf die Terrasse freigibt. Die öffentlichen Räume sind um einen großen Brotbackofen herum angeordnet, während die Lehr- und Ausstellungsräume durch die natürliche Beleuchtung und das erhöhte Volumen der Oberlichter gekennzeichnet sind.
Kornets Hus / The house of grain
Hjørring, Dänemark
Bauherr: Ejendomsfonden Kornets Hus
Planung: Reiulf Ramstad Arkitekter
Mitarbeiter: Reiulf Ramstad, Peter Kornmaaler Hansen
Statik: COWI
Grundstücksfläche: ca. 800 m2
Planungsbeginn: 2017
Fertigstellung: 2021
Baukosten: 45 mNOK
www.reiulframstadarkitekter.com
Text: Linda Pezzei
Fotos: Reiulf Ramstad Arkitekter
Kategorie: Projekte