Stadt, Land, Fluss
Während am Pier 54 einst die Überlebenden des Titanic-Unglücks in New York an Land gingen, zeugten über 100 Jahre später nur noch eine verrostete Stahlstruktur sowie die maroden Pfähle im Wasser von der einstigen Anlegestelle im Hudson River. An diesen verlassenen Kai dockt seit Neuestem mit Little Island ein Inselpark an. Das skulpturale Eiland soll mitten in der amerikanischen Metropole nicht nur zur grünen Oase, sondern auch zum Veranstaltungsort werden.
Für das Design des Projekts ist das Londoner Büro Heatherwick Studio verantwortlich. Den ersten Vorschlag für die urbane Insel machten der Medienmogul Barry Diller und seine Frau Diane von Furstenberg bereits 2013. Damals noch unter dem Titel Pier 55 stießen die Pläne aber auf viel Gegenwind und wurden vorübergehend eingestellt. Erst nach Unterstützung durch Andrew Cuomo, den damaligen Gouverneur von New York, kamen die Arbeiten rund um Little Island in Kooperation mit dem Hudson River Park Trust wieder ins Laufen.
Am südlichen Ende des berühmten High Line Parks fügt sich der Park in Chelsea an der West Side Manhattans in das Stadtgefüge ein und bildet die neue Verlängerung des öffentlichen Hudson River Parks im Süden. Vom Ufer aus erstrecken sich zwei Stege in den Fluss und verbinden Little Island mit dem Festland. Die kleine Insel selbst sieht von oben nahezu quadratisch aus. Erst beim Wechsel der Perspektive eröffnet sie ihre ganze Raffinesse: Anstatt einer horizontalen Fläche setzt sich der Park aus skulpturalen, unterschiedlich hohen Betonstützen zusammen, die eine organische Topografie ergeben und die perfekte Voraussetzung für eine lebendige Grünfläche bieten.
Inspiration für den Entwurf holten sich die Planer rund um Thomas Heatherwick von den Überresten des alten Piers. Sie wollten nicht nur eine aufgeständerte Plattform schaffen, die die Geschichte des Ortes überdeckt, sondern vielmehr eine Struktur, die organisch aus den Holzpflöcken herauswächst. Gleichzeitig sollten die maroden Hölzer des Bestands erhalten bleiben, um den Lebensraum der Wassertiere und Fische nicht zu zerstören. Dafür entwickelten die Architekten ein Konzept, das Konstruktion und Gestaltung der Seebrücke vereint. Bei der technischen Umsetzung dieser Idee wurden sie von den Ingenieuren von Arup unterstützt. Das Ergebnis ist ein Park mit einem Hektar Fläche, der wie eine Ansammlung von Pilzen aus dem Fluss zu wachsen scheint.
Die Tragstruktur besteht aus 280 Betonpfählen. Jeder von ihnen ist auf eine Belastung von bis zu 350 Tonnen ausgelegt und wurde tief in das Gestein am Grund des Hudson Rivers getrieben. Auf ihnen lagern insgesamt 132 Betonelemente, die aus 39 Schalungsteilen vorgefertigt wurden. Sie variieren in Form und Größe und ragen wie riesige Tulpen aus dem Wasser. Die einzelnen Module fügen sich in der Höhe versetzt aneinander und werden von Ortbeton zu einer zusammenhängenden Insel verbunden. Bei einer Breite von bis zu sechs Metern sind die einzelnen Fertigteile mit Erde gefüllt und fungieren als überdimensionale Pflanztröge. Neben Beton kam auf Little Island Cortenstahl zum Einsatz. Er formt Brüstungen, kleidet Geländesprünge und ergibt mit seiner rostbraunen Färbung einen spannenden Kontrast zu den Grünflächen. Stufen und Tribünen wurden aus Robinie, einer lokalen Holzart, gefertigt.
Für die Vegetation und die Erschließung des Naherholungsgebietes wurden die New Yorker Landschaftsarchitekten MNLA mit ins Boot geholt. Sie erstellten ein 3D-Modell der Insel und ließen Topografie, Sonneneinstrahlung und Wind in ihre Planung mit einfließen. So optimierten sie die Anordnung von fast 400 Pflanzenarten – darunter auch 66.000 Blumenzwiebeln – auf Little Island. Die Bäume und Sträucher, Gräser, Stauden und Blumen sorgen für Biodiversität. Sie fühlen sich im Klima der Metropole wohl und verändern die Insel und sich selbst mit den Jahreszeiten. Im Sommer spenden hohe Wipfel Schatten, im Winter schirmen die Gewächse Besucher vor der rauen Brise ab. Tiere fühlen sich ebenfalls auf dem Eiland wohl und finden nicht nur Futter und Schutz, sondern auch Nistplätze.
Durch die künstlich angelegte Naturlandschaft auf dem Wasser schlängelt sich ein 540 Meter langes Wegenetz mit Treppen und Rampen. Es verbindet die unterschiedlichen Bereiche und lädt zu Spaziergängen mit Blick auf den Hudson River ein. Die bewegte Topografie von Little Island kreiert auf natürliche Weise unterschiedliche Zonen für ein abwechslungsreiches Programm. Dieses beinhaltet neben dem üppigen Grün und Rasenflächen für Picknicks und zum Entspannen auch drei Veranstaltungsorte. Dazu gehört zum einen ein flexibel bespielbarer Platz für bis zu 3.500 Besucher, der dem Ufer zugewandt ist. Zum anderen gibt es eine kleinere Bühne mit 200 Plätzen sowie ein Amphitheater mit einer Kapazität von bis zu 700 Personen. Das Freilufttheater öffnet sich zum Wasser hin und macht den Fluss zur Kulisse für die kulturellen Darbietungen. Backstage-Bereiche wurden unterirdisch in der Betonkonstruktion versteckt. Über den gesamten Inselpark verteilt befinden sich Aussichtspunkte, von denen aus man die Skyline Manhattans und die Freiheitsstatue in der Ferne sieht.
Little Island erweitert den Stadtraum des Big Apple, ohne zusätzliche Fläche einzunehmen. Zentral gelegen streckt der Inselpark seine Fühler in den Hudson River aus und bietet über dem Wasser mit Naherholung und Kultur die Möglichkeit, der Hektik der Metropole zu entfliehen – und das auch noch in vielen Jahren, denn die Architekten bedachten die Pegelstände und den prognostizierten Anstieg des Meeresspiegels. Zudem gelang es dem Planertrio rund um das Heatherwick Studio nicht nur die Umgebung und die Geschichte des Ortes geschickt miteinzubeziehen und zu inszenieren, sondern die Seebrücke gleichzeitig mit dem unkonventionellen Design selbst zu einem Kunstwerk zu machen. Die Insel wartet nur darauf, auf vielen verschiedenen Ebenen erforscht zu werden und ermöglicht sowohl erholungssuchenden Städtern als auch Touristen ein unvergleichliches, urbanes Erlebnis.
Little Island
New York
Bauherr: Hudson River Park Trust & Pier 55 Project Fund
Planung: Heatherwick Studio
Gruppenleitung: Mat Cash
Projektleitung: Paul Westwood, Neil Hubbard
Statik: Arup
Landschaftsarchitektur: MNLA
Partnerarchitekten: Standard Architects
Nutzfläche: 11.000 m2
Planungsbeginn: 2013
Fertigstellung: Mai 2021
Text: Edina Obermoser
Fotos: Timothy Schenck
Kategorie: Projekte