Terra-Nova im Herzen von Brüssel

12. März 2025 Mehr

Wo einst die Nord-Süd-Bahnstrecke das Quartier ­Marolles zerschnitt und einen Unort hinterließ, bildet die von MDW Architecture konzipierte Sporthalle „Terre-Neuve“ heute den Auftakt für eine gelungene Stadtteilentwicklung im Herzen von Brüssel. Das Gebäude fügt sich mit seiner rohen, industriellen Ästhetik passend zur angrenzenden Bahnlandschaft maßgenau in das komplexe Grundstück ein. Die visuelle Leichtigkeit und Transparenz der Konstruktion ermöglichen sowohl den Blick hinaus auf die Züge als auch hinein in die Halle, sodass die Architektur einen neuen Identifikationspunkt im Stadtteil schafft und Raum für vielfältige sportliche und kulturelle Aktivitäten bietet.

 

 

Eine kompromisslos in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebaute Bahnstrecke hatte für das Brüsseler Quartier Marolles eine rücksichtslose Trennlinie quer durch die historischen Stadtblöcke zur Folge – und ein Nebeneinander zweier unterschiedlicher Maßstäbe sowie ein wirres Durcheinander eines ungezähmten Städtebaus. Die neue Sporthalle scheint nun eine alte Narbe zu heilen und die vermeintlichen Herausforderungen des urbanen Kontexts als Stärke zu nutzen.

 

 

„Not every solution is an answer to a problem“

„Unsere städtebaulichen Antworten werden immer vom Kontext beeinflusst und definiert“, erklärt Laurent Liefooghe, der künstlerische Leiter von MDW Architecture, und ergänzt: „Brüssel ist in vielerlei Hinsicht einzigartig, eine Stadt voller Widersprüche, dazu politisch komplex – dieser historische Einfluss auf die Architektur birgt im Heute viele Möglichkeiten. Dort wo Gegensätze aufeinanderprallen, wollen wir wieder wahre Orte schaffen, mit denen sich die Menschen identifizieren und die sie für sich annehmen können.“ Ein Ziel von MDW Architecture besteht daher darin, Neues zu schaffen, ohne alles Alte einfach wegzuwischen: „Es geht uns um die Collage, um Qualität – danach suchen wir an den verschiedensten Orten.“

 

 

Gleich einem Möbelstück fügt sich die neue Sporthalle präzise in das komplex geformte Grundstück inmitten eines Wohnblocks ein und ist dank der Nähe zu den Bahngleisen gleichzeitig prominent positioniert und gut sichtbar. Das Hauptvolumen mit Stahlrahmen sollte so puristisch und offen wie möglich gestaltet sein, um eine Vielzahl von sportlichen Einrichtungen integrieren zu können. Die rohe Struktur und die Wahl der Materialien orientieren sich an der umgebenden Bahnlandschaft und dienen auch einer Minimierung an Ressourcenverbrauch. Der verbleibende Hohlraum zwischen den schwungvoll verlaufenden und erhöht liegenden Gleisen und dem Bauvolumen umfasst einen Pavillon, der von einem gespannten Paraboloiddach bedeckt ist.

Die Süd- und Westfassaden der Sporthalle, die den Gleisen zugewandt sind, verleihen dem Gebäude eine gewisse Leichtigkeit und positionieren es als Barriere zur Stadt. Aus dem Inneren eröffnen sich vielfältige Ausblicke auf die vorbeifahrenden Züge, aus denen sich den Reisenden Einblicke in die dort stattfindenden Aktivitäten eröffnen. Vorgelagerte Sonnenblenden fungieren im geschlossenen Zustand als Sichtschutz und als Projektionsfläche für ein Schattenspiel der vorbeiratternden Züge und der Skyline der Stadt.

Die Integration der Sporthalle in den Stadtteil ­Marolles wirkt natürlich und schafft einen neuen Fixstern in der Roger-Van-der-Weyden-Straße. „Das Projekt ist einfach und pragmatisch gedacht. Es urteilt nicht moralisch über seine chaotische Umgebung, sondern versucht im Gegenteil, durch seine Haltung die Umgebung zu beruhigen und gleichzeitig seine radikal urbane Poesie zu maximieren“, so die Architekten.

 

 

3 Fragen an den künstlerischen Leiter von MDW Architecture, Laurent Liefooghe

Welche Rolle spielt Terre-Neuve im städtischen Gefüge Brüssels?

Zu Beginn des Projekts haben wir die gewachsenen Strukturen des Viertels mit seinen historischen Bauten untersucht. Was wir gefunden haben, war ein relativ unregulierter städtebaulicher Kontext, mit Problemen und Qualitäten zugleich. Unser Bauplatz befand sich inmitten des Innenhofes eines großen Blocks, der im Laufe der Zeit von einer Bahntrasse durchschnitten wurde und sich zu einer Art Unort entwickelt hat. Unsere neue Sporthalle ist Teil eines Entwicklungsplans für das als Problemviertel bekannte Gebiet und dient als Auftakt für verschiedene Maßnahmen rund um die Bahnlinie. Wir haben schnell erkannt, dass es dabei nichts zu verstecken oder zu verkleiden gab, also haben wir uns entschieden, dem Ensemble etwas hinzuzufügen und diesen anonymen Raum in einen Ort zu verwandeln, der nicht nur ein Programm für die Nachbarschaft bietet, sondern auch eine städtebauliche Gestaltungsfunktion übernimmt. Terre-Neuve ist als urbane Intervention und Fixpunkt einer Achse vom neuen Skatepark entlang des Bahnvia­dukts vom Straßenniveau aus bereits aus der Ferne sichtbar – auf einer zweiten Ebene eröffnen sich auch von der Bahntrasse und aus dem Zug heraus Blickbeziehungen ins Gebäude. Diesen größeren Einfluss wollten wir uns zunutze machen.

 

 

Welche Rolle spielte das Thema der Materialität bei der Gestaltung von Terre Neuve?

Da gibt es verschiedene Ebenen. Am wichtigsten waren uns der soziale Aspekt und die Funktion im Kontext der Nachbarschaft. Mehr denn als Gebäude verstehen wir Terre-Neuve als Infrastruktur. Denn auch wenn das Programm als Sporthalle klar definiert war, wollten wir einen Ort schaffen, der von der Nachbarschaft für weit mehr genutzt werden kann – jetzt, im Betrieb, sehen wir, dass dieses Konzept aufgeht. Mit Blick auf die Konstruktion haben wir mit einer Stahlstruktur zwar ein nicht besonders CO2-neutrales Material gewählt, dafür aber die Reststücke zum Bau von Möbeln für den Außenbereich verwendet – Stahl birgt in unseren Augen durchaus ein gewisses Potenzial, wenn es um Kreislauffähigkeit geht. Dazu haben wir auf eine Materialität in Rohform gesetzt und Oberflächen wie Holz, Beton, Stahl usw. ebenso wie die technischen Installationen sichtbar belassen – keine leichte Aufgabe in Abstimmung mit den ausführenden Firmen, die es gewohnt sind, im Groben zu arbeiten. Wir mussten daher unablässig dahinter sein, dass die Dinge von Anfang an präzise ausgeführt wurden. Unser Ziel war kein brutalistischer Look, sondern eine ausbalancierte Optik: beim Sport kommt der Körper unweigerlich mit dem Material in Berührung, das daher eine warme Ausstrahlung haben sollte.

Inwieweit fördert Terre-Neuve die soziale Interaktion und den Gemeinschaftsgeist in der Nachbarschaft?

Die soziale Interaktion mit der Nachbarschaft war für uns ein zentrales Thema. Sport ist dafür ein guter Motor – gerade in einem multikulturellen Umfeld. Die Bilder, die unsere Fotografin über drei Wochen vor Ort geschossen hat, spiegeln die große Diversität an Nutzer:innen wider. Dass das Gebäude so gut angenommen wird, empfinden wir als Erfolg – Sport kann ja auch ein Weg sein, sich selbst auszudrücken, in der Gruppe oder als Teil der Community. Die Beziehung zur Bahntrasse ist einerseits spannend, aber auch irgendwie extrem: es stellt sich die Frage, wo die Privatsphäre anfängt und endet. Als Antwort haben wir Sonnenschutzelemente eingeplant, die individuell geschlossen werden können. Eine kleine Evolution im Laufe des Projekts ist auch der als Pufferzone zu den angrenzenden Wohnhäusern gedachte Park, der von den Anwohner:innen noch vor Fertigstellung der Sporthalle zum Gemeinschaftsgarten umgenutzt wurde – uns gefällt das damit noch zusätzlich gewachsene Maß an Offenheit für alle auf dem Gelände.

 

 

Terre-Neuve
Brüssel, Belgien

Bauherr: Stadt Brüssel
Planung: MDW Architecture
Team: Xavier De Wil, Laurent Liefooghe, Marie Moignot
Statik: Util

Bebaute Fläche: 2.600 m2
Planungsbeginn: 2016
Baubeginn: 2019
Fertigstellung: 05 / 2023

www.mdw-architecture.com

 

 

Text: Linda Pezzei
Fotos: Anouk Maupu, Severin Malaud

Kategorie: Projekte