(Un-)gleiches Wohnduo
Inmitten der historischen Altstadt von Sempach bauten der Schweizer Architekt Roman Hutter und sein Team ein Wohnhaus, welches gemeinsam mit einem benachbarten Bestandsgebäude Platz für vier Wohnungen und einen Kulturkeller bietet. Der Neubau integriert sich so selbstverständlich in das dichte, urbane Gefüge, als wäre er schon immer dort gestanden und setzt dabei auf subtile Art und Weise ein selbstbewusstes Statement.
Das Städtchen am Sempachersee im Kanton Luzern zählt rund 4.200 Einwohner und zeugt mit seiner gut erhaltenen Bausubstanz bis heute von einer mittelalterlichen Vergangenheit. 1220 erhielt es unter den Habsburgern das Stadtrecht. Für die Dynastie stellte die Stadt damals einen strategischen Punkt auf dem Weg über den Gotthardpass dar, bis sie in der Schlacht bei Sempach 1386 schließlich an die Eidgenossen fiel. Der Verlauf der Nord-Süd-Route lässt sich an den Straßen in der Altstadt immer noch ablesen. Eine der wichtigsten Durchquerungen ist die Stadtstraße mit dem Luzernertor, das als Teil der Stadtbefestigung einst den südlichen Zugang markierte.
Für die Erhaltung und sorgfältige Weiterentwicklung seines Ortskerns wurde Sempach 2017 mit dem Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes ausgezeichnet. Die Jury würdigte dabei insbesondere den Diskurs der Gemeinde über das Planen und Bauen. Die Stadt fördere mithilfe von partizipativen Prozessen sowie maßgeschneiderten städtebaulichen und architektonischen Lösungen die Baukultur und vereine so die Erhaltung des historischen Zentrums mit den gegenwärtigen Bedürfnissen der Bevölkerung. Ein Beispiel für die Umsetzung dieser Herangehensweise ist das Projekt von Roman Hutter Architektur in der Kronengasse. Diese stellt eine der wenigen Querverbindungen zwischen der Stadtstraße und der – nahezu parallel dazu verlaufenden – Oberstadt dar und gibt damit eine städtebaulich interessante Situation vor. In der Gasse befindet sich unter anderem ein 1797 errichtetes Wohnhaus. Der Bau wird im Westen von einem Platz an der zentralen Stadtstraße und rückseitig von einem grünen Freiraum mit kleinen Gärten begrenzt. Eine benachbarte, alte Scheune wurde hier durch ein neues Gebäude ersetzt und im Zuge dessen auch der Bestand revitalisiert.
Anstatt direkt anzubauen, entschied sich das Planerteam für einen eigenständigen Baukörper. Damit verfolgte man das Ziel, das Ensemble einerseits von der historischen Struktur Sempachs mit ihrer geschlossenen Bauweise zu differenzieren und andererseits die Position des Bestands zu stärken. Lediglich im Erdgeschoss dockt ein einstöckiger Trakt mit außenliegendem Erschließungsbereich an das vorhandene Haus an. Neben dem breiten Altbau und seinem quadratischen Grundriss wirkt das neue Volumen schlank und hoch und scheint – von der Stadtstraße aus betrachtet – subtil hinter diesem hervorzulugen. So entsteht ein Gebäudepaar, bei dem sich sowohl viele Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede entdecken lassen. Der Neubau orientiert sich am Bestand und interpretiert dessen Gestaltung behutsam und zeitgenössisch: Wie sein Nachbar verfügt das neue Haus über drei Geschosse und schließt oben mit einem Satteldach ab. Letzterem verleiht – im Gegensatz zum Dach des bestehenden Gebäudes – ein deutlich geringerer Überstand einen modernen Touch und auch die charakteristischen Fensterläden prägen zeitgemäß adaptiert die Ansichten. Die Sichtbetonfassaden bilden mit ihrem schlichten Grau hingegen einen leichten Kontrast zu den farbigen, verputzten Wänden des alten Hauses.
Im Inneren entstehen in jedem der Bauten zwei Wohnungen. Während man die untere Einheit im Bestand zentral über die Kronengasse betritt, erfolgt die Erschließung der übrigen drei Appartements über den halböffentlichen Treppenraum zwischen den beiden Gebäuden. An der gegenüberliegenden Längsseite öffnet sich der Neubau in der ersten Etage über eine kollonadenartige, bodentiefe Glasfront zu einem Gemeinschaftsgarten hin, der allen Parteien zur Verfügung steht. Darunter brachte man im Sockelgeschoss – teils versteckt durch den Niveauunterschied – den Kulturkeller „Im Schtei“ unter. Sein Haupteingang befindet sich an der Ecke des neuen Baukörpers und ist dort durch die leicht versetzte Position auch von der Stadtstraße aus sichtbar.
Anders als außen, wo der Fokus auf mineralischen Oberflächen liegt, setzten die Architekten beim Innenausbau größtenteils auf Holz aus lokalen Wäldern. Das Naturmaterial hält in Form von massiven Einbauten, Böden und Deckenverkleidungen Einzug und verleiht den Räumen eine warme, wohnliche Atmosphäre. An den übrigen Stellen bleibt der Beton unverkleidet und sorgt für ein funktionales Finish. Im Altbau versuchten Roman Hutter und sein Team, die bestehende Bausubstanz bestmöglich zu erhalten. Dafür begaben sie sich laut eigenen Angaben zunächst auf „Spurensuche, um das Haus besser verstehen zu können“. Sie befreiten die ursprünglichen Strukturen von nachträglichen Eingriffen, sanierten und verputzten die Steinmauern des Häuschens und setzten sie neu in Szene. Besonders deutlich zeigt sich das im Dachgeschoss: Hier wurde dem historischen Tragwerk eine neue Holzkonstruktion eingeschrieben. Losgelöst von den Giebelwänden fungiert diese als eigene Raumzelle. Sie spannt mit dem Bestand zwei unbeheizte Zwischenbereiche auf, die von den Bewohnern über Fenstertüren betreten und als geschützte Außenräume genutzt werden können.
Als raffiniertes Duo bereichern die beiden Wohnhäuser in der Kronengasse die Kleinstadt in Zukunft um vier Wohneinheiten und eine neue Anlaufstelle für kulturelle Veranstaltungen. Bemerkenswert erscheint dabei vor allem das Selbstverständnis, mit dem es den Schweizer Architekten gelungen ist, das Revitalisierungs- und Neubauprojekt in das historische Stadtbild einzufügen und es zugleich sanft von ihm abzuheben. Als städtebauliches Bindeglied greifen das bestehende und das neue Haus dabei den Charakter ihrer Umgebung auf, passen ihn an die heutige Zeit an und werden so zum Vermittler zwischen gestern und morgen.
Kronengasse Sempach
Sempach, Luzern
Bauherr: Korporation Sempach
Planung: Roman Hutter Architektur
Statik Holzbau: Lauber Ingenieure
Statik Beton: Wälli AG Ingenieure
Grundstücksfläche: 440 m2
Bebaute Fläche: 238 m2
Nutzfläche: 562 m2 (Alt: 259 m2, Neu: 303 m2)
Planungsbeginn: 2017
Baubeginn: 2019
Fertigstellung: 2021
Baukosten: 3,7 Mio. (exkl. MwSt.)
Text: Edina Obermoser
Fotos: Markus Käch
Kategorie: Projekte