Universum der Kinder

15. September 2022 Mehr

Unter dem Titel Euroméditerranée wird in Marseille seit über 20 Jahren das größte Stadterneuerungsprojekt Europas umgesetzt. Die „nachhaltige Stadt von morgen“ bietet ein bunt durchmischtes wirtschaftliches, soziales und kulturelles Angebot. Neben Business und Wohnen bedenkt man mit Bildungseinrichtungen auch die jüngsten Bewohner. TAUTEM Architecture realisierte gemeinsam mit bmc2 eine Schule mit 4.100 m2: die Groupe scolaire Antoine de Ruffi.

 

 

Auf dem einst vernachlässigten Hafengelände im Norden der südfranzösischen Metropole entstehen im großen Stil Wohn-, Gewerbe- und Kulturbauten sowie öffentliche Freiflächen. Teil des urbanen Masterplans ist mit dem „Parc habité“ von Stadtplaner Yves Lion auch ein grünes Business- und Wohnviertel. Der Schulkomplex fügt sich auf einem Eckgrundstück ins urbane Gefüge ein. Er nimmt dort einen strategischen Punkt zwischen dem Eingang des neuen Méditerranée-Quartiers und des Parkdistrikts ein, die sich nach Süden entlang der Docks erstrecken. Während in nördlicher Richtung die Randbezirke mit Lagerhallen, Silos, umgenutzten Fabriken und Wohngebäuden aus den 1970er-Jahren anschließen, prägen mit La Marseillaise von Jean Nouvel und dem Tour CMA CGM von Zaha Hadid zwei ikonische Bürotürme die Kulisse vor dem Meer.

 

Hauptaugenmerk des Entwurfs lag darauf, den Bildungsbau an den Maßstab der jungen Nutzer anzupassen. Ihre Größe und Bedürfnisse flossen in sämtliche Designentscheidungen mit ein. Das Architektenduo entwickelte einen Betonmonolith, der inmitten der hohen Bebauung nicht untergeht und ein angenehmes Lernumfeld für die Drei- bis Elfjährigen kreiert. Eingefasst von drei Straßen galt es, die Antoine de Ruffi Schule vom Stadttrubel bestmöglich abzuschirmen. Mit einem L-förmigen Baukörper nutzte man das Grundstück optimal. Das Volumen ist entlang der Außengrenzen positioniert und spannt einen geschützten Innenhof auf. An der dritten, zum Meer orientierten Seite trennt ein Säulengang das Schulareal vom Stadtraum.

 

 

Der brutalistische Bau ist komplett in fugenlosem Sichtbeton ausgeführt. Laut den Planern hat die reduzierte Materialwahl nicht nur ästhetische Gründe: Der Beton ist besonders CO2-arm. Vor Ort gemischt und gegossen, verwendete man für die Herstellung des Baustoffs lokales Gestein und Schlacke. Anstatt das Abfallprodukt aus dem nahegelegenen Stahlwerk in Fos-sur-Mer aufwendig entsorgen zu müssen, wurde es hier ressourcenschonend recycelt. Neben dem Beton achtete man auch bei den übrigen Werkstoffen auf ihre Umweltbilanz und sicherte sich so das Bâtiments Durables Méditerranéens-Label, welches den Schulkomplex für seine Nachhaltigkeit auszeichnet. Ein weiteres Hauptaugenmerk lag auf der Einfachheit und Langlebigkeit des Gebäudes. Sie sollen über den gesamten Lebenszyklus eine mühelose Wartung garantieren.

 

 

Muschelkalk verleiht den Oberflächen eine helle Färbung, die je nach Lichteinfall von weiß bis beige schimmern. Unterschiedlich eingesetzt, zeigt das Material an den einzelnen Fassaden seine Vielseitigkeit und reagiert auf die jeweilige Ausrichtung. Die zweischaligen Süd- und Ostansichten sind massiv gestaltet und verfügen bei 1 m Dicke über eine Zwischendämmung. Tiefe Fensteröffnungen mit abgeschrägten Laibungen erinnern an mittelalterliche Schießscharten. Vereinzelte Lamellen und Stützen in den oberen Etagen bereiten auf die Kolonnade vor, die sich wie ein durchlässiger Vorhang vor die letzte Straßenfront legt. Sie beruht auf einem konstruktiven Raster von 120 cm und setzt sich aus gerade in die Höhe ragenden, hexagonalen Säulen zusammen. Diese tragen eine zarte Maschendrahtstruktur. Die Betonstützen rahmen nicht nur den Blick zum Hafen, sondern dienen auch als Sonnenschutz und zeichnen – abhängig von Tages- und Jahreszeit – abwechslungsreiche Schatten. Dank thermaler Masse, hoher Decken, Nachtkühlung und Querlüftung herrscht in sämtlichen Bereichen der Schule ganzjährig ein angenehmes Raumklima. Die Heiz- und Kühldecken werden über eine eigene Geothermie-Anlage des neuen Stadtviertels versorgt, welche Meerwasser zur Energiegewinnung nutzt.

 

 

Die Aufteilung der Funktionen im Inneren hat symbolischen Charakter: Der Start erfolgt im Kindergarten im Erdgeschoss. Mit zunehmendem Alter und höheren Entwicklungsstufen geht es für die Kleinen in die darüberliegenden Etagen der Volksschule. Im Gegensatz zur mineralischen Hülle prägt die insgesamt 22 Klassenzimmer, Kindergartengruppen und Gemeinschaftsräume warmes Lärchenholz. Der Naturwerkstoff kleidet punktuell Böden, Decken und Wände und schafft ein behütetes Lernumfeld. In den Eingangshallen kommt er in Form von gemütlichen Bänken zum Einsatz, in den Unterrichtsräumen bei Einbauten und Regalen. Knallige Farbakzente runden die fröhliche, kindgerechte Atmosphäre ab. Die bunten Akustikpaneele und Vorhänge sowie die Beschilderung in Pastelltönen bringen – zusammen mit den kleinen Nutzern – Leben in den Betonbau.

 

 

Das regelmäßige Stützraster ermöglicht dynamische Grundrisse und zukünftige Nutzungsanpassungen. Hofseitig springen die Stockwerke des gestaffelten Baukörpers nach oben hin immer weiter zurück. Die auskragenden Geschossplatten bieten Platz für überdachte Freiflächen und schützen vor direkter Sonneneinstrahlung. Die Fassaden sind mit raumhohen Verglasungen versehen, die sich unten zu den vorgelagerten Außenbereichen und weiter oben zu breiten Balkonen hin öffnen. Sie lassen sich einfach aufschieben, ergeben fließende Übergänge zwischen drinnen und draußen und eignen sich für flexiblen Outdoor-Unterricht. Im zweiten Stock komplettiert ein Schulhof auf dem Dach das Raumprogramm der Grundschule. Er wird von den Säulen eingefasst und überblickt die mediterrane Hafenstadt.

 

 

TAUTEM und bmc2 schufen mit der Groupe scolaire Antoine de Ruffi ein Schulgebäude, das sämtliche Anforderungen erfüllt: Monumental und doch differenziert integriert es sich ins Stadtgefüge von Marseille und wird gleichzeitig seinen jungen Nutzern gerecht. Außen macht die facettenreiche Betonhülle den Bau zum Paradebeispiel für nachhaltige Bildungsarchitektur und sorgt mit einem Wechselspiel aus Geschlossenheit und Durchlässigkeit für spannende Kontraste. Dazu kommen die farbenfrohen Unterrichtsräume im Inneren, die das französische Planerteam als „Universum der Kinder“ konzipierte. Sie werden wechselweise zum Ort der freien Entfaltung oder zum schützenden Kokon und vereinen alles, was die Kinder zum Lernen, Spielen und Wachsen brauchen.

 

 

Groupe scolaire Antoine de Ruffi
Marseille, Frankreich

Bauherr: EPA Euroméditerranée
Planung: TAUTEM Architecture
Partnerarchitekten: bmc2 architectes
Statik: Charles Protefaix
TGA: Elithis
Umweltberatung: Even Conseil
Akustik: Gui Jourdan

Nutzfläche: 4.150 m2 
Planungsbeginn: 2017
Bauzeit: 24 Monate
Fertigstellung: Jan. 2021
Baukosten: €10,500,000 € exkl. MwSt.

www.tautem-architecture.fr

 

 

Text: Edina Obermoser
Fotos: Luc Boegly

 

Kategorie: Projekte