Vom Brauen und Bauen
Vom Gestern ins Morgen – so oder so ähnlich könnte der Arbeitstitel des Umbaus der Gösserhalle im Wiener Gemeindebezirk Favoriten durch AllesWirdGut gelautet haben. Jedenfalls ist die Transformation des 1902 von den ÖBB errichteten Industriebaus zum dreigeschossigen Neubau mit Büroräumen und Restaurant derart gelungen, dass das behutsame Miteinander aus Bestehendem und neu Geplantem innen wie außen auf den ersten Blick ersichtlich ist.
Das Areal des heutigen „Neuen Landgut“ im 10. Wiener Gemeindebezirk soll langfristig gesehen zu einem Stadtteil wachsen, der geprägt ist von sozialen und ökologischen Grundsätzen und in dem alte Bausubstanz teilweise erhalten bleiben darf. Aus gutem Grund: Denn die bis in die 1840er-Jahre zurückreichende Geschichte blickt auf Funktionsbauten wie ein Dampfwagendepartement mit Wasserstation, eine Reparaturschmiede der Süd- und Ostbahn sowie ein Werkstättengebäude der ÖBB, das ab 1927 von der Firma Gösser in ein Bierlager umfunktioniert wurde. Zuletzt diente die Gösserhalle als eine der wenigen erhaltenen Originalbauten im Viertel als Eventlocation, bis Corona auch dieser Nutzung den Garaus machte.
Gemeinsam mit der angrenzenden Inventarhalle – Baujahr in etwa 1890 – sollen die beiden historischen Backsteinbauten künftig nicht nur das Zentrum des neuen Stadtviertels bilden, sondern auch als identitätsstiftende Wahrzeichen und Anlaufstellen für die Nachbarschaft dienen. In diesem Sinne verstanden die Architekten die Bauaufgabe als achtsame Auseinandersetzung mit einem Bestand, der seit jeher mit seiner markanten Bogenfassade aus Klinker den Charakter des Stadtteils prägt. Statt Altes aber einfach „nur“ zu bewahren, entschied man sich, die bestehenden Strukturen mutig und progressiv in die Zukunft zu überführen.
Drahtseilakt zwischen Auflagen und Nutzungsbedürfnissen
Da einerseits die Außenmauern der 19 Meter tiefen Gösserhalle erhalten bleiben sollten, andererseits im Inneren aber seitens der Nutzung eine für den Bürobetrieb optimale Raumtiefe von nicht mehr als 16 Metern gewünscht war, griffen die Architekten tief in die Trickkiste: Im Sinne eines durchwegs radikalen und entschlossenen Eingriffs wurde nur das Dach abgetragen, um anschließend abgesetzt von den historischen Gemäuern einen dreigeschossigen Neubau – sozusagen als Raum im Raum – zu platzieren.
Der so entstandene Zwischenraum schafft eine überraschend spannungsgeladene Fuge von insgesamt drei Metern, die Alt und Neu kontrastreich in den direkten Austausch treten lässt. Dieser laut AllesWirdGut nach gestalterischen, ökologischen, ökonomischen und pragmatischen Gesichtspunkten entwickelte Spalt prägt nicht nur die Aura des Gebäudes, er eröffnet sowohl von außen, als auch von innen und zwischendrinnen interessante Perspektiven und Blickwinkel. Realisiert wurde das durch einen Materialmix aus Holz, Klinker und Metall geprägte Konzept mittels vorgefertigter, modularer Elemente. Einerseits behutsame Rücksichtnahme und andererseits konsequente moderne Typologie sollen so, bedacht zusammengebraut, als wegweisendes Ausrufezeichen für das gesamte Stadtquartier dienen.
Nachgefragt bei Herwig Spiegl
Gründungspartner AllesWirdGut
Wie kam es zu dem Projekt, wie lautete das Briefing und was war die erste Idee für das Konzept?
Das Projekt wurde mittels geladenem Wettbewerb akquiriert. Das Briefing verlangte nach einem zukunftsfähigen Bürobau, die Stadt wollte ein identitätsstiftendes Zeichen, der Bauherr etwas Besonderes. Die Diskrepanz zwischen bestehenden Tatsachen – sprich einem Bestand mit 19 Metern Trakttiefe – und gewünschten Anforderungen von einer optimalen Office-Trakttiefe von 16 Metern schuf Platz für einen überraschenden und, gemessen an der Aufgabe, luxuriösen Spannungsraum zwischen Alt und Neu. Der Entwurf beschreibt eine Synthese aus respektvollem Erhalt von bereits Gebautem und neu geplantem State of the Art. Die dabei verfolgten Ziele entsprechen einer ganzheitlichen und somit zukunftsgewandten Auseinandersetzung mit der Aufgabe „Entwurf“.
Welche Rolle spielten der Ort und dessen Geschichte im Zuge der Gestaltung?
Die Gösserhalle spielt vor allem für den Ort heute eine wichtige Rolle, da sie inmitten eines neuen Stadtentwicklungsgebietes liegt. Als Bezugs- und Orientierungspunkt schenkt die Gösserhalle dem neuen, zu Beginn noch steril wirkenden, Stadtteil von Anfang an notwendige Identität und unverwechselbaren Charakter.
Welche Materialien wurden gewählt und warum?
Die Gestaltung der Gösserhalle wird vorrangig durch die alte Bogenfassade in Klinker bestimmt. Sie wurde sorgsam saniert, in Teilbereichen korrigiert und prägt auch weiterhin das neue Projekt. Dunkler Stahl für Neues erinnert an die Vergangenheit der Halle als Dampflokomotivenwerkstätte.
Gab es im Laufe der Planung Überraschungen oder Herausforderungen?
Das Planen und Bauen im Bestand ist immer voller Überraschungen. Ein Untergeschoss unter eine bestehende Halle zu integrieren, ist selbst dann eine große Herausforderung, wenn nur Teile der Halle stehen bleiben.
Wie und warum ist die Verbindung von Alt & Neu bei diesem Projekt besonders geglückt und was macht das Gebäude besonders zukunftsfähig?
„So viel wie sinnvoll – mit Maß und Ziel!“ Nach diesem Motto erhalten wir den Bestand und jonglieren zwischen Anforderungen des Stadtbildes, der Nachhaltigkeit und den Bedürfnissen der Nutzer:innen. Angemessenheit als Entwurfskonzept scheint uns in Zeiten wie diesen ein gutes Rezept für unsere Zukunft zu sein.
Umbau Gösserhalle
Wien, Österreich
Bauherr: Gösserhalle GmbH
Planung: AllesWirdGut Architektur ZT GmbH Wien München
Planungsteam: Alexis Brune, Aline Schmidt, Arwen Weber, Daniel Raske, Florian Gottler,
Johannes Windbichler, Karolina Pettikova, Matteo Martino,
Michael Pantillon, Patrick Wäsler, Teresa Aćimović, Till Martin
Statik: KS Ingenieure ZT GmbH
Grundstücksfläche: 5.170 m2
Nutzfläche: 4.830 m2
Baufläche: 1.850 m2
Planungsbeginn: 09/2020
Bauzeit: 07/2021 – 05/2023
Fertigstellung: 05/2023
Text: Linda Pezzei Fotos: tschinkersten fotografie
Kategorie: Projekte