Vom Korn zur Kunst

29. April 2025 Mehr

Die Architekten Mestres Wåge, Mendoza Partida und BAX studio bauten in Kristiansand, im Süden von Norwegen, ein Getreidesilo in ein Museum um. Dafür revitalisierten sie den massiven Bestand respektvoll, öffneten und adaptierten ihn wo nötig und verwandelten ihn so in eine moderne Kulisse für die zeitgenössische Kunst, die in dem ehemaligen Industriebau künftig ein neues Zuhause findet.

 

 

Auf Odderøya, einer kleinen Halbinsel im Süden der Stadt, die über vier Brücken mit dem Festland verbunden ist, wird das einst industriell geprägte Hafengebiet nach und nach zum neuen Kunstviertel von Kristiansand. Eingefasst vom Kilden Performing Arts Centre im Norden sowie der östlich gelegenen Knuden Cultural School befindet sich das Getreidesilo hier direkt am Wasser. Der Industriebau wurde 1935 nach Plänen von Korsmo og Aarsland Architekten errichtet. Da der ursprüngliche Entwurf – der neben einem Stiegenhaus und einer Lagerhalle nur 15 Zylinder umfasste – schnell an seine Kapazitätsgrenzen gelangte, erweiterte man die Anlage vier Jahre später in südlicher Richtung um 15 weitere Speicher. 1956 erfolgte eine weitere Transformation, bei der das Lager und auch der Kai auf die gesamte Länge des Silogebäudes ausgedehnt wurden, bis das Bauwerk 2008 schließlich gemeinsam mit der städtischen Getreidemühle seine Tore schloss. 2016 fiel die Entscheidung, einen internationalen Wettbewerb auszurufen, um dem denkmalgeschützten Ensemble als Kunstmuseum neues Leben einzuhauchen. Das Gewinnerkonzept für das Kunstsilo stammt von den drei in Barcelona ansässigen Büros Mestres Wåge, Mendoza Partida und BAX studio. „Der Vorschlag nutzt die gesamte Ausdruckskraft des Silos. Er schafft ein elegantes Gleichgewicht, indem er die Qualitäten des Bestands respektvoll mit der skulpturalen Raumerfahrung kombiniert“, begründete die Jury ihre Entscheidung.

 

 

Behutsamer Rückbau des Bestands

Die Architekten nahmen sich nicht nur der historischen Bestandsstruktur an, sondern beschäftigten sich auch mit dem angrenzenden Stadtraum. Eine neue Plaza vor dem früheren Getreidesilo soll sich zum gemeinsamen Anlaufpunkt im Freien für Besucher des Museums sowie des benachbarten Theater- und Konzerthauses bzw. der Schule für Musik und Kunst entwickeln. Bei der Umgestaltung des Gebäudekomplexes lag der Fokus ganz auf den 30 charakteristischen Silos, die einst mit bis zu 15.000 Tonnen Getreide gefüllt waren. Die fast 40 m hohen Rohre wurden, ebenso wie ein Treppenhauskern aus Beton, bis auf ihre Grundstruktur zurückgebaut. Außerdem fügte man dem Haupttrakt mit dem niedrigeren Lagergebäude rückseitig einen neuen, länglichen Anbau hinzu. Weiße Putzfassaden verleihen dem Kulturbau nach der Transformation eine schlichte Ästhetik. Lediglich der Annex hebt sich, in zart schimmernde Metallpaneele gehüllt, leicht vom restlichen Ensemble ab. Der obere Abschnitt des Kunstsilos wirkt fast hermetisch geschlossen. Im Erdgeschoss öffnet sich hingegen ein transparenter Sockelbereich mit raumhohen Verglasungen zur Umgebung und lässt tiefe Ein- und Ausblicke zu.

 

 

Einschnitte schaffen Raum für Neues

Im Inneren des Kulturbaus organisierte man die gesamte Museumslogik anhand der skulpturalen Silorohre. Während bei den mittigen Zylindern jeweils die unteren Teile entfernt wurden, schnitt man die außenliegenden Volumen an der Innenseite in Längsrichtung auf. Das Ergebnis ist ein fast sakral anmutendes Atrium, das mit seinen 21 m Höhe zum Mittelpunkt des Museums wird. Besucher erhalten hier tiefe Einblicke in die Struktur des imposanten Baus und können dessen Dimensionen auf sich wirken lassen, bevor sie auf Entdeckungstour gehen. Durchbrüche und gezielte Öffnungen in den Wänden der massiven Getreidespeicher lenken den Blick immer wieder in den zentralen Luftraum und sollen zudem die Orientierung erleichtern.

Aus statischer Sicht stellten die Umbaumaßnahmen eine Mammutaufgabe dar: Passierte die vertikale Lastabtragung zuvor lediglich innerhalb der einzelnen Röhren, musste die Silostruktur im Zuge der Transformation als zusammenhängendes Tragwerk betrachtet werden. Um das zu bewerkstelligen, verstärkte man die Betonelemente im Bereich der Einschnitte durch Zugbänder, welche die horizontalen Kräfte künftig über die bodenberührenden Zylinderwände nach unten leiten.

 

                  

Mix aus Alt und Neu

Die rohen Sichtbetonoberflächen des Bestands ließ man bewusst unverkleidet und kombinierte diese mit neuen Elementen aus Holz und anderen Materialien. So integrierte man in eine der Röhren z.B. eine Wendeltreppe, die nun sämtliche Stockwerke des Museums verbindet und einen spannenden Kontrast zwischen Alt und Neu schafft. Das kathedralenartige Atrium dient nicht nur als Empfangshalle, sondern auch als Erschließung aller Funktionen: Die 25 unterschiedlich großen Galerien sind in den beiden Nebengebäuden untergebracht. Dort erstrecken sie sich auf drei Ebenen verteilt über 3.300 m2. Ganz in Weiß gestaltet, werden die Ausstellungsflächen zum schlichten Hintergrund für die moderne Sammlung mit über 5.500 nordischen Kunstwerken. Büros und eine Kunstschule komplettieren das Raumprogramm des Kunstsilos.

Den krönenden Abschluss bildet eine Dachterrasse mit Bar und Eventbereichen. Sie liegt direkt über der großen Silohalle und wird rundum von einer Reihe an aufgesetzten Zylindern aus Glas eingefasst. Als transparente Volumen führen sie die Kontur der einst industriell genutzten Röhren darunter bis auf das Gebäudedach fort und sollen an Leuchttürme erinnern. So entstehen geschwungene, windgeschützte Terrassenflächen mit einer eindrucksvollen Aussicht auf Meer und Stadt.

 

 

Kulturelles Leuchtturmprojekt mit Mehrwert

Mestres Wåge, Mendoza Partida und BAX studio gelang es, das denkmalgeschützte Getreidesilo in einen spannenden Kunstraum zu verwandeln, der den Charakter des Ortes und mit ihm seine Geschichte bewahrt. Die Revitalisierung rückt die Merkmale des zuvor industriell genutzten Komplexes gezielt in den Vordergrund und macht das neue Kunstsilo – auch über die Gebäudegrenzen hinaus – zum attraktiven Anlaufpunkt für Kulturinteressierte. Zwischen Bestandsstrukturen und behutsamen Eingriffen wartet ein modernes Museumskonzept, das fortan das kulturelle Angebot von Kristiansand bereichert.

 

 

Kunstsilo
Odderøya, Kristiansand

Bauherr: SKMU Sørlandets Kunstmuseum
Planung: Mestres Wåge, Mendoza Partida, BAX studio
Tragwerksplanung: Degree of Freedom, Rambøll, Other Structures (Entwurfsphase)
Lichtplanung: Henning Larsen
Innenarchitektur:Scenario
HLK-Planung: BJ miljø
Bauunternehmer: Backe Sør

Bruttogeschossfläche: 10.300 m²
Planungsbeginn: 2016
Fertigstellung: 2024
Baukosten: NOK 710 Mio. exkl. MwSt. (ca. 61 Mio. EUR)

www.mestreswage.com

 

 

Text: Edina Obermoser
Fotos: Pedro Pegenaute, Alan Williams

Kategorie: Projekte