Zurück zur Natur – Alnatura Arbeitswelt
Alnatura Arbeitswelt / Darmstadt / haascookzemmrich STUDIO2050
Die berühmte Aufforderung „Retour à la nature!“ findet sich bei Jean-Jacques Rousseau zwar nicht wörtlich, wurde ihm aber fälschlicherweise zugeschrieben. Der Philosoph, Naturforscher und Pädagoge Rousseau meinte allerdings, dass, „wenn man zu früh damit anfängt, die natürlichen Gefühle, Neigungen und Bedürfnisse mit aufgepfropften Idealen, anerzogenen Gewohnheiten und unverstandenen Pflichten zu unterdrücken“ – man einen entzweiten Menschen schüfe! Sein pädagogischer Ausgangspunkt lag dabei auf der Bildung der Organe und Sinne in der Erziehung. Mit dem neuen Alnatura Campus in Darmstadt, entworfen vom Architekturbüro haascookzemmrich STUDIO2050 auf dem Gelände der ehemaligen Kelley-Barracks, ist eine Architektur entstanden, welche genau diesen Kriterien gerecht wird. Ein Bau, der alle Sinne anspricht, Nachdenken fordert und einen neuen Weg in der Planung und Errichtung von Architektur beschreibt. Und auch vielleicht der ständigen Diskussion, ob „Abreißen oder Neubauen“ neue Inputs liefert.
Es ist kein „wildes“, ins Auge stechendes Projekt, das die Architekten haascookzemmrich STUDIO2050 in Darmstadt für Alnatura entworfen haben. Eher unaufgeregt, aber von einer sehr weitreichenden und verantwortungsvollen Konzeption geprägt, weist diese Architektur einen neuen Weg für nachhaltiges, grünes Bauen.
Ein ressourcenneutraler Neubau
Alnatura entwickelt Bio-Produkte und betreibt eigene Bio-Supermärkte, liegt also im Trend. Trendig ist auch die Architektur des neuen Campus der Firma in Darmstadt, der eine Arbeitswelt für (fast) alle ist: nicht nur für Mitarbeiter, sondern auch für Besucher. Weit weg vom üblichen Image einer grün angehauchten Architektur. Schon beim Eingang wird der Besucher verführt, in das links vom Haupteingang gelegene vegetarische Restaurant „tibits“ abzuzweigen. Widersteht man der kulinarischen Verlockung und geht geradeaus, gleitet der Blick über die geschwungenen Ebenen nach oben in ein lichtdurchflutetes Holzdach.
Man wird an einem geschwungenen, hölzernen Empfangstresen begrüßt und darf es sich in der Wartelounge bequem machen. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich das Konferenzzentrum mit den dienenden Funktionen wie den Garderoben und Schließfächern. Der Übergang zwischen öffentlichem und internem Bereich ist fließend und fügt sich in das Gesamtkonzept ein. Dieses zieht sich als Wegegeflecht durch den Körper und schafft horizontale und vertikale Nachbarschaften. Spielerisch werden so die auf den drei Ebenen liegenden Bürobereiche miteinander vernetzt. Es gibt keine Barrieren. Die Arbeitswelt verliert sich nicht in einzelnen Abteilungen, abgeschlossenen Räumen und unübersichtlichen Gängen: Ein großer Raum, der sich vom Erdgeschoss bis unter das Dach zwischen den Fassaden – ohne störende Trennwände – aufspannt, bietet den Mitarbeitern und dem Unternehmen eine unbegrenzte Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten und bricht mit dem Dogma starrer Bürostrukturen. Auf allen Ebenen befinden sich daher offene Teeküchen, die auch als Besprechungsorte genutzt werden.
Der Begriff Teeküche beschreibt allerdings diese Meeting-Points nur unzureichend. Die Arrangements von Küchen, Holztischen, Sesseln und Sofas wirken entspannt und einladend und bilden eine Plattform für anregende Treffpunkte. Hier liegt die Post bereit, man holt sich einen Kaffee oder macht eine Kopie. Denn es sind diese spontanen Begegnungen, die zufälligen Impulse, die Arbeitswelten attraktiv machen und die Kreativität der Mitarbeiter fördern können. Der Arbeitsplatz in der neuen Arbeitswelt ist – überall. Vom Lümmelbrett entlang der Galeriebrüstung, der Sitznische in den Lehmwandfenstern, bis zum Holzdeck am Seerosenteich gehören das Gebäude und der Campus den Mitarbeitern. Diese flachen Hierarchien spiegeln sich in der offenen Struktur des neuen Hauses wieder. Ob Restaurant, Meeting Point, Konferenzräume oder die Bürolandschaft – es existiert eine Vielfalt an Räumen, die eine lebendige und flexible Arbeitsatmosphäre ermöglicht. Konzentrierte, „private“ Arbeitsbereiche wie die Alkoven, stehen „öffentlichen“ Flächen gegenüber. Es gibt keine trennenden Türen. Mit akustisch wirksamen Vorhängen können Besprechungsbereiche bei Bedarf abgetrennt werden. Jeder Arbeitsplatz bietet einen besonderen Ausblick und alle Mitarbeiter können durch das Atrium und die Schaufassade im Westen auf den Freiraum mit seiner vielfältigen Naturwelt blicken.
Das ganze Erdgeschoss funktioniert als Treffpunkt, als Raum für Kommunikation, der die unkomplizierte Begegnung von Besuchern und Mitarbeitern ermöglicht. Wer in das Atrium der neuen Arbeitswelt tritt, fühlt sich beinahe wie unter freiem Himmel. Das Dach und die transparenten Stirnfassaden lassen so viel Sonnenlicht hereinströmen, dass der gesamte Innenraum taghell erleuchtet wird. Und die Materialien Holz, Lehm und der unbehandelte Beton geben dem Gebäude eine natürliche, unprätentiöse, frische und freundliche Anmutung.
Das Atrium ist ein Ort, der atmen und damit eine besondere Anziehungskraft auf alle, die sich im Gebäude aufhalten, ausüben soll. Es teilt den längs gerichteten Baukörper in zwei Hälften, reicht bis zum Dach, wo die 91,4 Meter langen Haushälften durch ein Glasband wieder verbunden sind. Verschiedenste Stege, geschwungene Rampen, Treppen und Verbindungen schaffen die kommunikative und logistische Verbindung der beiden Bürohälften in den Geschossen. Ganz gleich, auf welcher Ebene man sich befindet, der Blick ist von allen Standpunkten spannend und abwechslungsreich.
Das Tragwerk für die Holzsatteldachkonstruktion bilden markante Brettschichtholzträger mit einer Gesamtlänge von 22 m. Die Trägerhöhe von 2,3 m über der Stütze ist auf die weite Auskragung von 11,6 m zurückzuführen. Das großzügige Raumgefühl wird auf diese Weise unterstrichen. Aufgrund des Standorts des Gebäudes in einer Erdbebenzone lag besonderes Augenmerk auf der Planung der Verbindungsdetails. Insbesondere die Anschlussbereiche von Oberlicht und Fassade an das Tragwerk müssen im Erdbebenfall auftretende Differenzverformungen aufnehmen können.
Schlichter Körper
Der äußere Eindruck ist eher seriell, eben büro- oder verwaltungsmäßig – umso mehr wird man im Inneren von den bewegten, geschwungenen und ineinander verwobenen Ebenen überrascht. Auch die Dachschrägen bewirken nicht den üblichen begrenzenden Eindruck, das mag an der Wärme, die das verwendete Holz ausstrahlt, liegen, oder auch an der Großzügigkeit der Raumgefüge.
Die Lage und die Ausrichtung des Gebäudes sind nach mikroklimatischen Gesichtspunkten festgelegt. Um bestmögliche Tageslichtbedingungen im Inneren der Arbeitswelt zu bieten, ist der Baukörper mit seinen Längsseiten Nord/Süd orientiert. Damit wird sichergestellt, dass durch das Oberlichtband des Atriums reines Nordlicht ins Gebäude geleitet wird. Ungewollte solare Wärmeeinträge können so vermieden werden. Um das Atrium herum gruppieren sich auf drei Geschossen ca. 10.000 m2 Bürofläche für bis zu 500 Mitarbeiter. Die Geschosshöhe von 4 m im Erdgeschoss und 3,5 m im Obergeschoss ermöglicht eine durchgehende Tageslichtnutzung, auch in den tiefer liegenden Bürobereichen. Helle Oberflächen und ein heller Bodenbelag unterstützen die tageslichtfreundliche Arbeitsatmosphäre.
Alle Fenster sind mit einem Blend- und Sonnenschutz ausgestattet, der individuell gesteuert werden kann. Auf der sonnenbeschienenen Südseite des Gebäudes befindet sich mit dem Teich ein natürlicher Klimapuffer, der das Mikroklima des Standortes im Sommer positiv beeinflusst. Die schönen hohen Bestandskiefern auf der Südseite des Gebäudes liefern im Sommer die gewünschte Verschattung. Und natürlich wird das Sonnenlicht über eine 480 m2 große Fotovoltaikanlage auf dem Dach auch zur Energiegewinnung genutzt. An der kühleren Nordseite befinden sich mit dem Konferenzbereich im Erdgeschoss hingegen Räume, welche hohe Luftwechselraten benötigen und von der kühleren Umgebung profitieren. Die West- und Ostseite der Arbeitswelt sind transparent gestaltet. Ein Ausblick in beide Welten, welche der Campus so gut miteinander verbindet: im Westen, der Wald und die naturnahe Umgebung, im Osten die gebaute Umwelt und die Stadt.
Frischluft aus dem Wald
Es war von Anfang an ein Planungsziel, das Gebäude ganzjährig natürlich zu belüften und auf Ressourcen verbrauchende und wartungsintensive Klima- und Lüftungsgeräte zu verzichten. Der westlich gelegene Wald bietet hierfür optimale Voraussetzungen. Im Sommer entsteht über die Verdunstung an den Blattoberflächen ein natürlicher Klimatisierungseffekt. Die Frischluft für die Arbeitswelt wird daher über zwei Ansaugtürme am Waldrand in einen Erdkanal geleitet und von dort ins Gebäude geführt. Das Erdreich bietet eine stabile Durchschnittstemperatur, dadurch wird die ins Gebäude strömende Luft auf natürlichem Wege vorkonditioniert – im Winter erwärmt und im Hochsommer gekühlt. Die frische Luft wird im Gebäude an den Kernen in die Geschosse geleitet. Für den Antrieb dieses Luftstroms sorgt der Kamineffekt des Atriums, eine Thermik, die sich unter dem Oberlichtband einstellt. Bei besonderen Wetterereignissen, Inversionswetterlagen und Gewittern können Ventilatoren im Inneren des Kanals zugeschaltet werden. Darüber hinaus können die Mitarbeiter aus Komfortgründen die Fenster der Fassade individuell öffnen.
Erdwärme
Durch die vorkonditionierte Zuluft des Erdkanals ist der zusätzliche Heiz- und Kühlbedarf des Gebäudes sehr gering. Die Speichermasse der Lehmwände und der Betondecke sorgen für ein stabiles, ausgeglichenes Temperaturniveau. An heißen Sommertagen helfen die extra hohen Räume und die Verdunstungskühlung des Lehms, Wärmeinseln im Arbeitsbereich zu vermeiden. So kommt die Architektur mit den 69 cm
dicken Lehmwänden sehr gut ohne mechanische Kühlgeräte durch den Sommer. Im Winter braucht es allerdings zusätzliche Wärme. Die effizienteste Art Räume zu beheizen ist, über Strahlung Wärme zu verbreiten. Daher sind in die Lehmwände des Gebäudes Heizschlangen eingestampft, die mit Warmwasser aus regenerativen Quellen wie den Geothermiesonden und aus der Abwärmerückgewinnung der Küchentechnik gespeist werden.
Die Wassernutzung
Der Wechsel zwischen lang anhaltenden Trockenphasen und plötzlichen Starkregenereignissen ist ein weiterer Hinweis auf die Auswirkungen des Klimawandels. Auf dem Campus wird mit Regen und Wasser daher sehr bewusst gewirtschaftet. Die Modellierung des Geländes führt das Wasser gezielt über Bachläufe und Aufkantungen weg vom Gebäude in eine über 1000 m3 große unterirdische Zisterne. Auch die Dachentwässerung mündet hier, um dann für die Bewirtschaftung der Partner- und Schulgärten sowie als Grauwasser gezielt genutzt zu werden.
Die Akustik
In der Planung wurde von Anfang an ein besonderes Augenmerk auf die Bedämpfung unangenehm empfundener Geräuschquellen gelegt. Um die thermische Speicherfähigkeit der Decken und Wände nicht zu beeinträchtigen, war der Einsatz von Vorsatzschalen und abgehängten Decken ausgeschlossen. Eine besondere Lösung stellt daher der Einsatz der Absorberstreifen in der Betondecke dar. Die geschäumte Betonstruktur der in den Rohbau eingelegten Fertigteile sorgt für eine wirksame Brechung der Schallwellen und trägt wesentlich zur Bedämpfung der Arbeitswelt bei. Neben dieser Neuentwicklung des Fraunhofer Instituts ist das Holzdach mit der schallwirksamen Holzlammellendecke ein weiterer wichtiger Baustein. Auch die hölzerne Fensterrahmung und die Mikroperforierung der Kernwandverkleidung wirken dämpfend auf den Raum. Darüber hinaus trägt die offenporige Struktur der Stampflehmwand zu der guten Geräuschkulisse des Hauses bei.
Renaturierung
Bei der Umgestaltung des ehemaligen Kasernenareals wurden versiegelte Flächen, wo immer möglich, rückgebaut und renaturiert. Die alten Fahrbahnplatten wurden vor Ort gebrochen und als Sitzstufen und Bachlaufkanten oder als Füllkies direkt wiederverwertet. Lediglich für die baurechtlich notwendigen Stellplätze blieben die alten Betonplatten wie vorgefunden liegen. Eingebettet in die Dünenlandschaft, mit dem für die Region typischen Magerrasen, befinden sich ein Fahrradhaus aus Holz, ein KinderNaturGarten, eine Streuobstwiese, öffentliche Bio-Pachtgärten auf 5.000 m2, ein Schulgarten der Montessori-Schule Darmstadt, Hochbeete, ein Naturteich, Kräutersinnesgärten sowie ein kleines Amphitheater aus Betonbruchstücken des ehemaligen Panzerübungsplatzes.
Die Stampflehmfassade
In Zusammenarbeit mit Martin Rauch und Transsolar ist eine innovative Stampflehmwand entstanden. Die einzelnen Stampflehmblöcke (3,5 m x 1,0 m) wurden an der Nord- und Südfassade zu 16 je 12 m hohen Wandscheiben geschichtet. Weltweit zum ersten Mal wurde die Stampflehmwand dabei mit einer geothermischen Wandheizung belegt. Eine weitere Besonderheit ist die Kerndämmung der direkt neben der Baustelle vorgefertigten Stampflehm-Fertigteile: Die 17 cm starke Dämmung besteht aus Schaumglasschotter, einem Recyclingmaterial. Die äußere Stampflehmschicht ist 38 cm, die innere 14 cm dick. Insgesamt hat der Aufbau eine Dicke von 69 cm und erreicht einen guten U-Wert von 0,35W/(m2·K). Die 12 m hohen Stampflehmscheiben sind selbsttragend und lediglich mit Ankern an den Geschossdecken fixiert. Die Wände enthalten nicht nur Lehm aus dem Westerwald und Lavaschotter aus der Eifel, sondern auch recyceltes Material aus dem Tunnelaushub von Stuttgart 21.
Gestampfter Lehm ist sehr massiv, seine Dichte ist mit Beton vergleichbar. Stampflehm wirkt somit hervorragend als Speichermasse und reguliert auf natürliche Art und Weise die Raumluftfeuchte. Um der Oberflächenerosion von Stampflehm entgegenzuwirken, sind horizontale Erosionsbremsen aus Ton und Trasskalk in einem Abstand von 30 bis 60 cm eingebracht. Wie eine Flussverbauung bremsen sie die Kraft des Wassers und minimieren so die Erosion. Die graue Energie bei der Herstellung, Verarbeitung und dem möglichen Rückbau von Lehm ist praktisch null. Es zeigt sich, dass Lehm hier noch weit vor bekannten Naturprodukten wie Holz oder Tonziegeln liegt. Durch die Langlebigkeit des Materials, wie auch durch die hervorragende Luftfeuchteregulation und Wärmespeicherfähigkeit des Lehms, entsteht ein Bau von hoher Wertstabilität. Die Oberfläche bleibt frei von Algen- oder Moosbildung, der Reinigungs- oder Pflegeaufwand der Fassade entfällt. Im Inneren verbessert die poröse Oberfläche neben dem Raumklima auch wesentlich die Akustik der angrenzenden Bürofläche.
Klimaneutrales Gebäude
Neben den genannten Maßnahmen, beispielsweise der Verwendung nachwachsender und natürlicher Baustoffe wie Holz und Lehm sowie dem Einsatz wiederverwerteter und wiederverwendbarer Materialien, sind es auch die vielen kleinen, kaum sichtbaren Entscheidungen, die dazu beigetragen haben, aus dieser Arbeitswelt ein klimaneutrales Gebäude zu machen. (so wurde z. B. die Dämmung des Kellers aus recyceltem Schaumglas hergestellt).
Alnatura Arbeitswelt
Darmstadt, Deutschland
Bauherr: Campus 360 GmbH
Planung: haascookzemmrich STUDIO2050
Mitarbeiter: Martin Haas (verantw. Partner), Sinan Tiryaki (Projektleiter)
Statik: Knippers Helbig, Stuttgart
Grundstücksfläche: 55.000 m2
Bebaute Fläche: 4.000 m2
Nutzfläche: 10.000 m2
Planungsbeginn: 2014
Bauzeit: 2,5 Jahre
Fertigstellung: 01/2019
Baukosten: 24,3 Mio. Euro
Fotos:©Roland Halbe
Text:©Peter Reischer
Kategorie: Projekte