Neue Nähtechniken für Holzkonstruktionen in der Architektur
Die Natur bildet den Raum.
Das Institut für Computerbasiertes Entwerfen (ICD) und das Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart haben im April 2016 einen neuen Forschungspavillon fertiggestellt. Dieser setzt erstmals industrielle Nähtechniken für Holzkonstruktionen im Maßstab der Architektur ein, und zeigt damit auf, wie textile und robotische Fertigungsmethoden kombiniert und im Leichtbau von Segmentschalen angewendet werden können.
Mittels Rasterelektronenmikroskop erstellte Detailaufnahmen von verschiedenen Seeigel- und Sanddollarspezies ermöglichen, deren komplexe innere Struktur besser zu verstehen. Durch diese Aufnahmen, sowie mithilfe weitergehender Literaturrecherchen, wurde deutlich, dass die Verbindungen zwischen den Plattensegmenten der Seeigelschale nicht nur aus den bereits bekannten Fingerzinken, sondern auch aus zusätzlichen Faserverbindungen bestehen. Auf Grundlage dieser bionischen Erkenntnisse sowie der charakteristischen Materialeigenschaften von Holz wurde ein Konstruktionssystem entwickelt, das als zweilagige Struktur die Formen nachbildet, die beim Sanddollar durch Sekundärwachstum entstehen. Als Ausgangswerkstoff dienten dünne Furnierstreifen, die zu ebenen, individuell gefertigten und 3-5 mm dicken Sperrholzplatten laminiert wurden. Diese Bauelemente nutzen die Anisotropie des Holzes, um die verschiedene Faserausrichtung der Furnierbestandteile und die unterschiedliche Materialstärke zu differenzieren. So können die zunächst ebenen Bauteile elastisch so verformt werden, dass sich allein durch den Laminataufbau gesteuert, eine spezifische Segmentgeometrie mit ungleichmäßigen Krümmungsradien einstellt. Diese wird dann durch das robotische Vernähen in Form gehalten. Die zweilagigen Segmente tragen äußere Lasten überwiegend durch Normalkräfte und Scherkräfte in der Plattenebene ab. Während letztere hauptsächlich in den Verbindungen der Segmente durch die Finger-zinken übertragen werden, werden Zugkräfte durch Reepschnüre aufgenommen. Im Ergebnis entsteht so ein leistungsfähiges und komplex geformtes Schalentragwerk aus einfachen, ebenen Furnierstreifen.
Der Pavillon besteht insgesamt aus 151 unterschiedlichen, robotisch vorgefertigten Segmenten. Jedes besteht aus drei einzelnen individuell laminierten Furnierstreifen aus Buchenholz. Diese individuellen Segmente mit Biegeradien zwischen 30 und 75 Zentimeter sind in Form und Faserorientierung jeweils an die lokalen statischen und geometrischen Erfordernisse angepasst. Die gesamte Konstruktion wiegt 780 kg, spannt 9,3m und überdacht eine Fläche von insgesamt 85m². Daraus ergibt sich ein Verhältnis von Materialdicke zu Spannweite von gerade einmal 1/1000 im Mittel und ein durchschnittliches Konstruktionsgewicht von 7,85 kg / m² bezogen auf die Schalenoberfläche. Darüber hinaus ermöglichen die neuartigen textilen Verbindungen den Verzicht auf jegliche Art von metallischen Verbindungsmitteln.
Fotos: ©Copyright ICD-ITKE
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