Ruins Studio in Schottland
Palimpsest in Schottland
Ruins Studio / Dumfries / Lily Jencks Studio & Nathanael Dorent Architecture
Wer je Schottland besucht hat, kennt den Zauber der Landschaft mit ihren kleinen Baumgruppen und den atemberaubenden Hügellandschaften samt weidenden Schaf- oder Kuhherden. Mitten drinnen verstreut immer wieder kleine Gehöfte, Einzelhäuser und verfallene Steinbauten. Die Designerin Lily Jencks hatte eine solche Ruine eines alten schottischen Farmhauses von ihrer Mutter geerbt und wollte dem Wunsch ihre Mutter entsprechend, den Steinhaufen zu einem Domizil und Arbeitsort wiederbeleben. Der Ort liegt in der kleinen Grafschaft Dumfriesshire im Südwesten Schottlands.
Der Grundgedanke von Lily Jencks und ihrem Team bei der Revitalisierung des verfallenen Bauernhauses in Dumfries, Schottland war, Historisches zu bewahren und durch neue Baumaterialien und Technologien zu ergänzen. Ein sichtbarer, spürbarer und erlebbarer Kontrast zwischen den drei Schichten des Hauses: Steinmauer, Hauskörper und Inneneinrichtung.
Hazelwood war eine verfallene Ruine eines aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bauernhauses. Neben einem kleinen Wäldchen und viel Gestrüpp, aber in einer exponierten Lage mit einer grandiosen Aussicht auf das Tal von Nithsdale und die umliegenden Hügel. Jencks arbeitete mit Nathanael Dorent zusammen, um eine Architektur als Rückzugsort von der urbanen Hektik, aber immer mit einer starken Beziehung zur Natur, zu schaffen. Der Blick auf die typisch schottisch „rollenden“ Hügel und die darin verteilten Steinmauern war ihr wichtig. Die Natur sollte in das Haus quasi eingeladen sein, eindringen können. Doch die Bausubstanz war im Zustand des Zerfallens.
Da die Ruine und das neue Gebäude zusammen ein Palimpsest (Vorgang des Neu- oder Wiederbeschreibens eines Manuskriptes) darstellen, also mehrere Zeit- und Bearbeitungsschichten bereits übereinanderliegen und nun noch eine weiter dazu kommen sollte, wollte die Bauherrin stark kontrastierende Materialien, um so die diversen Schichten sichtbar zu machen. Und zwar sollten nicht nur die Materialien, sondern auch die Geometrien der Architektur den Gegensatz deutlich zeigen.
Die erste Schicht ist somit die noch existierende Steinmauer. Diese wurde von einem geschickten, lokalen Steinmetz in einen stabilen Zustand gebracht. Im Inneren dieser Mauer, welche die äußeren Grenzen des Hauses bestimmt, ist ein mit einer schwarzen -EPDM-Gummihaut (Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk) und einem Satteldach versehener „Umschlag“, eine Hausform. Diese Folie ist mittels Kontaktkleber vollflächig auf der Grundkonstruktion aus OSB-Platten verklebt. Hier offenbart sich nicht nur der Materialkontrast, sondern auch die Gegensätze zwischen linearer, geometrischer Form und den verfallenen, fast natürlich wirkenden Mauerresten.
Im Inneren dieses sattschwarzen Körpers befindet sich ein weißes, gekurvtes, organisches Wandsystem ähnlich einer Höhlenröhre. Diese „Inneneinrichtung“ besteht aus einer Holzstruktur mit Polystyrenblöcken, überzogen mit glasfaserverstärktem Plastik. Stärker können die Gegensätze eigentlich nicht sein.
Diese drei Schichten, Ruine, Umschlag und Röhre, waren als miteinander verbunden gedacht. Im Inneren der Röhre befinden sich die mehr öffentlichen Funktionen wie Küche, Arbeitsraum, Wohn- und Essbereich. In einigen Zonen entkoppelt sich die Röhre vom Umschlag um private Zonen wie Schlafzimmer, Bad und Lagerräume zu definieren. Hier werden die Räume eher rechteckig und nehmen „gewöhnliche“ Formen an. Das Bad ist über dem Schlafzimmer an der nordöstlichen Giebelseite des lang gestreckten Baus und im ersten Stock gelegen. Eine kleine Innentreppe erschließt es für den Nutzer.
Die Öffnungen der Architektur, die Fenster zu der herrlichen Landschaft, werden durch die Reste der Mauern und die Aussichtspunkte bestimmt. Bei den Fenstern und Türen erweitert sich die Röhre gegen das Licht hin und lässt so eine problemlose Integration der Tür- und Fensterelemente zu. Die Zonen, in denen die Röhre wieder von der Außenwand zurückweicht, werden für Regale, Möbel und (verborgene) Stauräume benutzt. Manche der Einrichtungen reagieren auch auf die Form der Röhre, wie zum Beispiel ein Sofa und Wandregale. Diese scheinen – als Holzstrukturen – aus der Wand herauszuwachsen oder (je nach Perspektive) in ihr zu verschmelzen.
Im Bezug auf die Energieversorgung des Objektes beschloss die Auftraggeberin, es „offline“ zu halten, so wie in früheren Zeiten die Bauernhäuser in den entlegenen Gegenden eben waren. Das heißt: unabhängig vom Netz und selbstversorgend. Eine vier Kilowatt Fotovoltaikanlage wurde installiert, die eine Serie von Batterien speist. Als Back-up-Lösung gibt es einen Gasgenerator für Notfälle.
Alle eingesetzten Verbraucher sind speziell für niedrigen Stromverbrauch ausgewählt und abgestimmt. Zwei CO2-freie Holzöfen stehen im Wohnbereich, wiederum mit der Back-up-Lösung eines hocheffizienten Gasboilers für die Warmwasserbereitung und Zentralheizung. Insgesamt ist das Haus hoch isoliert und verbraucht wenig Energie.
Ruins Studio
Dumfries, Schottland
Bauherr: privat
Planung: Lily Jencks Studio & Nathanael Dorent Architecture
Mitarbeiter: Lily Jencks (Director) + Pati Santos (Architect)
Statik: Manja Van de Worp (Nous Engineering
Grundstücksfläche: 180 m2
Bebaute Fläche: 176 m2
Nutzfläche: 132 m2
Planungsbeginn: 2008
Bauzeit: 05/2014
Fertigstellung: 09/2016
Baukosten: 504.000 Euro
Palimpsest ist die Bezeichnung für eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite oder -rolle, die beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde.
Text: Peter Reischer
Fotos: © Sergio Pirrone