Sich den Übergängen einer Stadt widmen
Die Nussmüller Architekten setzten unter der Leitung von Stefan Nussmüller verschiedene Schwerpunkte. Zu ihnen zählen lebenswerte Quartiersentwicklungen, Revitalisierungen und Sanierungen, genauso wie Holzbau. Der Grundgedanke dabei lautet stets: Architektur als Produkt unserer gemeinsamen Vorstellung. Diese Haltung sieht man den Projekten des Grazer Architekturbüros auch an, die stets von besonderer Kreativität, Sensibilität und Nachhaltigkeit zeugen.
Was macht eine Stadt aus?
Eine Stadt ist für mich gekennzeichnet durch den Begriff der Urbanität. Urbanität hat mit dem Erleben von Andersartigkeit, Diversität und Interkulturalität zu tun. In der Stadt treffen verschiedene Meinungen aufeinander und daraus entsteht ein Dialog. Der urbane Raum wird dadurch beeinflusst und bereichert, auch Konfrontationen gehören dazu. Die Stadt hängt mit dem Leben in einer Gemeinschaft aus verschiedenen Personengruppen zusammen. Im Unterschied steht dazu das Dorf, wo es eine gewisse Homogenität der Bewohner gibt. Der Austausch und die Dichte an Möglichkeiten ist in einer Stadt ungleich höher.
Wodurch wird die Qualität eines Stadtquartiers beeinflusst?
Es geht dabei einerseits um die räumliche Zusammensetzung des Quartiers an sich, also um die Programmierung. Diese bezieht sich darauf, welche Arten von Wohnungen für wen vorhanden sind, wie viel öffentlichen Außenraum und sonstige Angebote es für das tägliche Leben gibt. Viel wahrnehmbarer und manchmal auch wichtiger ist aber andererseits die Qualität der Aufenthaltsbereiche des öffentlichen Raumes innerhalb eines Stadtquartiers.
Welches Potenzial bieten Stadtentwicklungsgebiete für eine Stadt?
Ich habe festgestellt, dass Stadtentwicklungsgebiete in Wien anders verhandelt werden als im Rest Österreichs. In Wien macht man sich weitschichtiger über kooperative Verfahren Gedanken und beschäftigt sich damit, was ein neues Stadtentwicklungsgebiet können soll. Das passiert bevor der eigentliche Stadtteil entwickelt wird. Dieser Schritt vor der Planung hat für mich großes Potenzial. Wir Planer beobachten Stadtentwicklungsgebiete über längere Zeit und erkennen, dass jedes Stadtentwicklungsgebiet immer versucht, am Puls der Zeit zu sein und die besten Möglichkeiten für die Zukunft zu kreieren. Ein Stadtentwicklungsgebiet ist immer auch ein kleiner Abdruck von dem, was die Stadt schon bieten kann und den Wunschvorstellungen, was sie in Zukunft sein soll. Wenn man das vernünftig diskutieren, verhandeln und in Vorgaben zu Planungsprozessen umsetzen kann, dann kommen sicher gelungene Beispiele dafür heraus.
In der Grazer Max-Mell-Allee gestalteten die Nussmüller Architekten einen Wohnbau in Holzmassivbauweise, für den sie 2019 den Steirischen Holzbaupreis erhielten. Jede der 38 Wohnungen ist von zwei Seiten belicht- und belüftbar, an der Außenfassade steht jeder Wohnung eine private Freifläche mit Blick ins Grüne zur Verfügung. © Oberhofer
Wird Stadtentwicklung zu sehr auf das Thema Wohnen reduziert?
Von öffentlicher Seite wird immer versucht, eine stark durchmischte Stadt zu formen, was unbestritten gut und verfolgenswert ist. Der freie Markt entwickelt aber gerne ausschließlich Wohnungen, weil diese am besten zu verkaufen sind. Es braucht ein Regelset, womit zum Beispiel die Nutzung von Sockelgeschossen reguliert wird. Im Hinblick auf die resiliente Stadt müssen auch die Geschosshöhen so angepasst werden, dass in den Wohnungen auch andere Nutzungen ermöglicht werden. Auch die Wohnungsgrößen sollen unterschiedliche Möglichkeiten zulassen, damit man Wohnungen zusammenlegen und auch wieder kleiner machen kann. Die Nutzungsart sollte also über die Größe und Geschosshöhe offengehalten werden.
Braucht es mehr Vielfalt an Wohnformen?
Nicht jedes Gebiet verträgt die gleiche Vielfalt hinsichtlich der Wohnungsgrößen und sozialen Bedingungen. Fest steht: Je höher die Vielfalt ist, desto mehr soziologische Betreuung benötigt man. Denn es müssen unterschiedliche Personengruppen, unterschiedliche Wünsche des Wohnens und des sich Ausbreitens berücksichtigt werden. Die Vielfalt hat auch immer den positiven Aspekt der gegenseitigen Beeinflussung, aber den negativen Aspekt der Konfrontation und beides muss man bedenken. Gebiete in der Stadt verlangen dabei ein höheres Maß an Heterogenität. In den Randbezirken sind gewisse Altersgruppen vorhanden, die dann aber auch wieder vielfältig durchmischt sein können.
Welche zukünftigen Herausforderungen sehen Sie im Bereich Wohnen?
Es muss mit den unterschiedlichen Lebenssituationen klarkommen und dafür verschiedene Angebote liefern. Natürlich soll auch die sich verändernde Form des Wohnens, Arbeitens und der Freizeitgestaltung mitgedacht werden. Büroarbeit für viele Arbeitsbereiche kann auch von Zuhause gut abgearbeitet werden, was uns die Corona-Pandemie und der Lockdown gezeigt haben. Die Entwicklung der Wohngebiete auch hinsichtlich der Freizeit ist ein wichtiger Punkt. Das betrifft vor allem auch Kinder, die sich innerhalb des Viertels frei bewegen können und auch mehr Erlebnisbereiche bekommen sollen, die über das Erlebnis einer Kinderschaukel hinausgehen. Dafür muss sich der Verkehr weitläufig verändern. Wir merken jetzt schon, dass der KFZ-Anteil in gut erschlossenen städtischen Gebieten stark zurückgeht und sich die Wohnbereiche autofrei gestalten, damit mehr Raum den dort lebenden Menschen überlassen wird.
Das Innere des Wohnblocks öffnet sich als gemeinschaftlicher Innenhof, von dem aus alle Wohnungen erschlossen werden. Zusätzlich stellt er auch das soziale Zentrum der Hausbewohner dar, die die Möglichkeit haben, sich die großzügige Fläche vor ihrer Wohnung anzueignen. © Oberhofer
Wie lassen sich diese Anforderungen räumlich übersetzen?
Die unterschiedlichen Bewohnungs- und Nutzungsformen können durch Extraflächen ergänzt werden, die man zusätzlich zu seiner Wohnung buchen kann. Aktuell gibt es servicierte Gemeinschaftsflächen, die über die Betriebskosten abgerechnet werden. Für individuelle Zusatzflächen gibt es derzeit wenig bis gar kein Geschäftsmodell, obwohl es ein sehr großes Potenzial hat. Man hätte dadurch die Möglichkeit eine Wohnung seinen Bedürfnissen anzupassen und zusätzlichen Raum zuzumieten, der etwa als Arbeitsraum, Lagerraum oder Bastelwerkstatt genutzt werden könnte.
Werden wir in Zukunft nur noch im Bestand bauen?
Das Bauen im Bestand wird zunehmen, aber nicht der bestimmende Teil sein. Viele Bestandsbauten können aufgrund ihrer Substanz nicht so ein adäquater Wohnraum sein, wie Neubauten. Damit geht natürlich die energetische und ökologische Frage einher. Bei Bauten, die thermisch saniert werden müssen, ist abzuwägen, in welcher Art und Weise gebaut worden ist und ob es sich lohnt, den Bau zu sanieren.
Welche Bedeutung hat die energetische Betrachtung der Architektur?
Der energetische Aspekt muss unbedingt betrachtet werden und wird es natürlich auch. Man muss sich vergegenwärtigen, dass circa 45 Prozent der Treibhausgasemissionen durch den Neubau, Betrieb, den Erhalt und die Entsorgung von Gebäuden entstehen. All diese Bereiche müssen sukzessive in den Griff gebracht werden. Derzeit wird rein der Energieverbrauch der Gebäude betrachtet, was nur ein sehr kleiner Teil des Ganzen ist. Der Lebenszyklus der Gebäude muss betrachtet werden, was sich wiederverwenden lässt und was wie entsorgt wird. Es braucht ein Bewusstsein für beides, sowie eine Herkunftsbezeichnung, ein Energielabel des Bauelements und auch ein entsprechendes Entsorgungslabel. Es reicht nicht, wenn sich ausschließlich Wissenschaftler damit beschäftigen, wie viel CO2 in einem Material vorhanden ist. Es muss auch beim praktischen Einsatz der Bauprodukte ablesbar sein.
Wie beeinflusst die Energiewende das Aussehen und die Identität einer Stadt?
Das Aussehen unserer gebauten Umwelt wird stark darauf ausgerichtet sein, was es zum Teil jetzt schon ist. In Stadtentwicklungsgebieten gibt es eine sehr hohe Varianz an gerasterten Fassaden. Es geht dabei um das Verhältnis von Außenfläche und Volumen, das als kompaktes Volumen für energetische Gebäudeformen ansprechend in den Stadtraum übersetzt werden soll. Für grüne Fassaden und die Nutzung von lokalen dezentralen Energienetzen müssen die Designwege dann auch noch weiter gedacht werden. Generell hinkt das Design immer ein bisschen hinterher, denn man braucht immer erst ein gewisses Erfordernis, um neue Dinge zu designen. Grundsätzlich braucht es immer Zeit, bis dafür in der Ästhetik eine entsprechende Formulierung gefunden wird. Das Beste setzt sich dann hoffentlich durch.
Worin soll eine Stadt unbegrenzt sein?
Die Grenze zwischen öffentlich und privat, wo sich das Halböffentliche befindet, ist ein ganz wesentlicher Bestandteil für die Entwicklung einer Stadt. Es muss mehr Ausverhandeln und bewusstes Ausgestalten dieser Räume an der Schwelle zwischen öffentlich und privat geben. Im Idealfall gibt es keine Grenze, sondern etwas Individuelles und Erlebbares. Ein guter Wohnbau hat keine Zäune. Durch diese Sperren würden zum Zaun hin Leerräume entstehen, die verlorene Bereiche sind. Wenn die Grenze verhandelbar ist, dann können diese Zwischenräume neu entdeckte halböffentliche Bereiche sein. Es geht dabei um die Übergänge zwischen der eigenen Wohnung, dem Haus als Wohnungsverbund, dem Block und auch dem gesamten Stadtviertel. Diese sind interessant für eine Stadt und ich würde mich ihnen gerne mehr widmen.
Kategorie: Architekten im Gespräch, Kolumnen