Ein biomimetischer Wald – Notre-Dame
Palingenesis / Paris / Vincent Callebaut Architectures / Notre-Dame
Einen Vorschlag zum Neuaufbau des durch ein Feuer zerstörten Daches der Notre-Dame, der gleichzeitig eine nachahmende oder museumsähnliche Architektur vermeiden soll, hat Vincent Callebaut entwickelt. Er birgt neben ästhetischer Architektur auch einen Weg zur Erhaltung von Biodiversität, Urban Farming, Nachhaltigkeit, Soziales und eine spirituelle Komponente.
Am 15. April 2019 erlebten die Pariser Bürger eine Katastrophe und die Kathedrale Notre-Dame, die seit Jahrhunderten über die christliche und westliche Kultur gewacht hatte, beinahe ihr Ende. Ein Feuer zerstörte das Dach über dem Hauptschiff, ein Teil der Gewölbe stürzte sogar ein. Das Feuer war noch kaum gelöscht, begannen schon einige Architekten und Büros mit der medialen Publikation von Vorschlägen für den Wiederaufbau.
Die verschiedensten Visionen tauchten auf, von einem Penthouse für Quasimodo, einem mehrgeschossigen Parkhaus, einer McDonald´s Filiale bis zum Schwimmbecken auf dem Dach der ehrwürdigen Dame reichten sie. Stahl und Glas waren die bevorzugten Baumaterialien der eingereichten Entwürfe. Der französische Senat allerdings ließ verlauten, dass die Notre-Dame in ihrem „zuletzt bekannten Zustand wieder aufgebaut werden müsse“. Man wird also sehen, ob sich Denkmalschützer, Konservative und Utopisten auf einen Nenner einigen können.
Ein Vorschlag kam auch von dem – für seine utopischen und grünen Visionen bekannten – Architekten Vincent Callebaut. Seine Vision liegt auf jeden Fall im Trend: Der Projektname „Palingenesis“ steht in diesem Zusammenhang für Wiedergeburt, Wiedererschaffung nach einer Katastrophe und würde es also den Bewahrern recht machen. Seine Idee, das Dach der Kathedrale mit einem naturähnlichen Wald zu bepflanzen entspricht den derzeitigen Bemühungen um „grüne Architektur“. Die momentane Identifikationskrise der Kirche und die Klimakrise verlangen beide nach Reaktionen, die in diesem Fall eine direkte Folge der derzeitigen Herausforderungen sein können. Die Kirche muss sich genauso wie die Architektur neu positionieren, es kann nicht so weiter gehen wie gehabt.
Die ephemere Konstruktion und die im Geviert eingesetzten Glasplatten schaffen zusätzliches Naturlicht in dem Innenraum der Kathedrale.
Callebaut trachtet nun in seinem Vorschlag der Rekonstruktion der Notre-Dame sowohl Fragen der menschlichen Intelligenz, der zeitgenössischen Geschichte aber auch die der Wissenschaft, Kunst, Transzendenz und Spiritualität zu vereinen. Sein Projekt vertritt die Symbolik einer Resilienz und einer ökologischen Zukunft in der Stadt. Er verordnet Paris sozusagen einen Cocktail aus Biomimetik und Biomimicry, der sich hier als allgemeine Ethik für eine faire, symbiotische Beziehung zwischen Mensch, Stadt und Natur offenbart.
Ein aus Ökoressourcen entstehender neuer Turm, als Beispiel einer spirituellen Anbetung, versucht sich mit dem ehrwürdigen, steinernen Kirchenschiff zu verbinden, sich mit ihm wie ein vegetativer Baumsteckling zu verschmelzen. Eine einzige gebogene Kurve soll alles zu einer Einheit zusammenfassen – Dach und Turm. Von den vier Giebelwänden ausgehend gleicht sich die Konstruktion an die ehemalige Höhe an und steigt gegen den Vierungspunkt dann in einem 55-Grad-Winkel an, um den zentralen Turm zu bilden. Auf diese Weise werden die vorgegebenen Prinzipien der Lastabtragung des Bauwerks auf die Strebebögen und die innen liegenden Pfeiler eingehalten und die vier Dachlinien der Firste vereinen sich in einem eleganten, parametrischen, gegen den Himmel ragenden Turm in einer leichten Geometrie.
Die Konstruktion soll aus kreuzweise verleimten Holzbalken, die mittels Glasfaserstäben vorgespannt sind, errichtet werden. Das neue Rahmenwerk aus Eiche versucht, mit einem minimalen Materialaufwand auszukommen, um den ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich zu halten und gleichzeitig eine größtmögliche Transparenz für die Kathedrale zu generieren. Diese Durchlässigkeit, das Teilen und die Öffnung zur Gesellschaft sind die grundlegenden Entwurfskriterien für diesen diaphanen Wald auf der Notre-Dame – sie sollen auch das neue Erscheinungsbild der Kirche im 21. Jahrhundert ausmachen.
Ulf Mejergren Arkitekter, Swimmingpool auf der Notre-Dame
Natürlich beinhaltet die Idee von Architekt Callebaut auch jede Menge Effizientes zum Thema Energie. Der Sprössling auf dem Dach soll dazu beitragen, die Notre-Dame in ein Gebäude zu verwandeln, das mehr Energie liefert, als sie selbst verbraucht. Durch eine energietechnische Verbindung mit dem historischen Körper der Architektur soll der dreidimensionale Glaskörper die gesamte Elektrizität, Wärme und passive Ventilation produzieren, die die Kathedrale für den Betrieb benötigt. Und zwar sowohl mittels passiver Systeme, wie auch durch die Benutzung erneuerbarer Energiequellen. Die Holzkonstruktion ist mit einer dreidimensionalen Glashülle versehen, diese teilt sich in diamantförmige Elemente. Diese Kristalle bestehen aus einer organisch aktiven Schicht aus Kohlenstoff, Hydrogen, Wasserstoff und Sauerstoff – sie absorbiert Licht und wandelt es in Energie um. Diese Energie soll in Wasserstoffzellen gespeichert und direkt an die Architektur zur Nutzung abgegeben werden.
whocaresdesign, Penthouse für Quasimodo
Um einen Glashauseffekt zu vermeiden sind diese kristallinen Einheiten (Trägerhüllen) am Boden entlang der Akroterien des Längs- und des Querschiffes offen – so erzeugen sie einen natürlichen Luftstrom in Richtung Turmspitze wie bei einem Windkamin. Diese natürliche Ventilation – sie funktioniert ähnlich, wie in einem Termitenbau – sorgt für eine exzellente Luftqualität im Inneren. Weiters stellt der Turm der Kathedrale in den Winterzeiten einen thermischen Pufferspeicher für die warme, aufsteigende Luft dar. Im Sommer dient er als Generator für frische und kühle Luft durch die Verdunstungsoberflächen der Pflanzen. So würde der Bau ein Musterbeispiel einer Öko-Ingenieurskunst und die Kirche gleichzeitig ein echter Pionier für eine umweltbezogene Resilienz werden.
In seinem Zentrum stellt das Palingenesis-Projekt einen Garten, welcher der Kontemplation und Meditation gewidmet ist, dar. Der Garten hat aber nicht nur ästhetische, sondern auch ganz praktische Aspekte: Er soll von Freiwilligen und karitativen Organisationen betreut werden und den Obdachlosen und ärmsten Bevölkerungsschichten der Stadt Nahrung zur Verfügung stellen. Aquaponik und Permakulturen können bis zu 25 Kilo Früchte pro m2 produzieren. Also wäre eine Ernte von bis zu 21 Tonnen Gemüse und Früchte pro Jahr auf dieser Fläche möglich. Ein Wochenmarkt könnte im Vorhof der Notre-Dame stattfinden und für die direkte Verteilung sorgen. Diese urbane Farm liegt über dem Kreuzungspunkt der Kirchenschiffe. Der geometrische Garten „à la française“ lässt Grünpflanzen entlang der Ost-West-Richtung wachsen und nord-süd-gerichtet sind die Fischteiche angeordnet. In deren Wasserfläche würden sich auch die Rosettenfenster der beiden Stirnseiten spiegeln.
Die Öffnung in der Mitte des Gewölbes, die durch den teilweisen Einsturz während des Feuers entstand, will der Architekt mit Glas verschließen und so zusätzliches natürliches Licht in die Mystik des gotischen Innenraumes leiten. So soll eine Erinnerung an das schreckliche Feuer und gleichzeitig eine neue „göttliche“ Atmosphäre entstehen.
Renderings:©Vincent Callebaut Architectures
Text:©Peter Reischer
Kategorie: Projekte