Ein großer Raketenstadl – Binhai Science Museum
Binhai Science Museum / Tianjin / Bernard Tschumi Architects
Als in den 80er Jahren einige der „jungen wilden“ Architekten gegen den Formalismus der Postmoderne zu protestieren begannen, war Bernard Tschumi einer von ihnen. Sie (Peter Eisenman, Frank Gehry, Zaha Hadid, Rem Koolhaas, Daniel Libeskind, etc.) machten sich einen Namen, als sie – inspiriert von Jacques Derridas poststrukturalistischer Philosophie und dem sowjetischen Konstruktivismus – die Zerschlagung traditioneller architektonischer Formen begannen. Über die Fachkreise hinaus wurden sie als Dekonstruktivisten bekannt. Eine Ausstellung, die von Philip Johnson und Marc Wigley im Sommer 1988 im New Yorker Museum of Modern Art kuratiert wurde, machte diese neue architektonische Richtung mit einem Schlag bekannt und salonfähig.
Den 33.000 m2 umfassenden Komplex des Exploratorium haben Bernard Tschumi Architects in Tianjin entworfen. Der mit rötlichen, perforierten Aluminiumpaneelen verkleidete Bau fügt sich wie ein exotischer Dominostein in eine großflächige Bebauung aus weiteren Teilen des Tianjin Binhai New Area Culture Centers ein. Da das Museum zwar fertig, aber noch nicht eröffnet ist, darf man gespannt sein: Denn China ist berüchtigt dafür, astronomisch teure Kultureinrichtungen zu bauen, die nur selten ihrer Bestimmung entsprechend genutzt werden.
Bernard Tschumi (*1944) hatte damals bereits einen großen Erfolg, den Gewinn des Wettbewerbes für den Parc de la Villette aufzuweisen. Bei diesem Projekt verteilte er 26 sogenannte „Folies“ (Verrücktheiten) als rote, architektonische Objekte in einem Raster über den Park. Verbunden waren sie durch eine Serie von Übergängen, Brücken, Treppen und anderen Wegführungen. Es war eine Architektur der „Theorie und der Bewegtheit“, nicht der Bilder und Fassaden, und somit ein Ergebnis seiner theoretischen Forschungen in den Jahren nach der Beendigung seines Studiums.
Von 2013 bis 2014 arbeiteten Bernard Tschumi Architects am Entwurf des Binhai Science Museum in Tianjin, China, zusammen mit dem Tianjin Urban Planning and Design Institute (TUPDI). Dieses Museum mit dem etwas sperrigen Namen „The Modern City and Industrial Exploratorium of Tianjin Binhai New Area Culture Center“ soll Ende 2019 eröffnet werden und ist bereits jetzt fertiggestellt. Auf 33.000 Quadratmetern werden hier Werke der industriellen Vergangenheit der Region durch eine großformatige zeitgenössische Technologie sowie spektakuläre Schauobjekte aus der Weltraumfahrt und -forschung ausgestellt. Die Architektur ist ein Teil des Kulturzentrums der Region Binhai und enthält neben Ausstellungs- und Kulturbereichen auch Galerien, Büros, Restaurants und Verkaufslokale.
Tschumi hat sich bei diesem Projekt endgültig vom Dekonstruktivismus zu einem Pragmatismus weiter entwickelt. Allerdings nimmt er gewisse, in seinen Theorien erarbeitete, Kriterien weiter mit. Das Exploratorium ist eine Verbindung aus der vielschichtigen, industriellen Geschichte der Gegend, der Industrieproduktion im großen Maßstab und der Forschung.
In Tianjin errichtete er einen rechteckigen Kubus, der von mehreren konischen Volumina durchdrungen wird. Diese sind teilweise an der Fassade sichtbar – konvex oder konkav, teilweise ragen sie über die Dachebene hinaus. Der zentrale Hauptkegelstumpf, von oben belichtet, verbindet alle drei Ebenen miteinander. Eine spiralförmig angelegte Rampe führt an seiner Hüllform entlang (ganz wie im Konzept vom Parc de la Villette), ermöglicht ständig neue Ein- und Ausblicke und verbindet unterschiedlichste Bereiche wie in einer modernen, vertikalen Stadt. Dieser Kegel hat die doppelte Höhe des Innenraums des Guggenheimmuseums in New York. Gleichzeitig ist diese Schaustellung eine Interpretation einer alten Industrietypologie. Das Dach des Gebäudes ist als Promenade für die Besucher zugänglich und bietet tolle Aussichten über die umgebende Stadtlandschaft.
Einen ziemlichen Kontrast bildet der, wie eine Skulptur geformte, kupferfarbene Körper mit der technoiden Umgebung.
Das Zentrum des Ausstellungskomplexes ist die zentrale Lobby auf der Erdgeschossebene des größten Kegels, sie bietet Zugang zu allen öffentlichen Bereichen des Baus. Der riesige Konus verbindet alle rundherum liegenden Zonen und erlaubt es den Besuchern, sich spiralförmig durch die riesigen Ausstellungshallen von einem Ende zum anderen zu bewegen. Große Bullaugen und Oberlichten sichern die Belichtung der Innenräume und geben jedem Raum seinen eigenen, individuellen Charakter. Mehrere dreigeschossige Lufträume definieren die Hauptrichtungen des Besucherstromes und die Konfiguration der Lichterkuppeln und der Fensteröffnungen vermitteln ein eher außerirdisches „feeling“ im Inneren.
Eine perforierte, rötliche Aluminiumfassade vereinheitlicht das Erscheinungsbild des Komplexes. Sie gibt ihm ein unverwechselbares Bild und trotz der Größe der Architektur wirkt der Körper noch fassbar. Allerdings nur optisch, denn im Vergleich mit der Größe eines Menschen treten die Mächtigkeit und der Repräsentationsanspruch dieser Architektur klar zutage. Die in unregelmäßigen Abständen an der Hülle verteilten Bullaugen belichten die Innenräume, zusammen mit den Oberlichten reduzieren sie den Bedarf an elektrischem Licht in den Ausstellungsräumen. Die Kegelformen der Räume sammeln auch, wie bei einem Kamin, die warme Luft und führen sie nach oben ab. Sie wird entweder im Sommer nach außen geleitet, oder im Winter wieder in die Galerien eingeblasen. Von unten kann ständig kühlere Luft nachströmen und die perforierten Fassadenpaneele tragen ebenfalls dazu bei, den Hitzeeintrag zu reduzieren und damit die Kosten für die Klimatisierung zu senken.
Was man auf den „schönen“ Architekturfotos allerdings nicht sieht (oder was nicht gezeigt wird), ist die Einbettung dieser Architektur in eine kastenförmige, gleichhohe, uniforme, an ein Hochregallager erinnernde Bebauung, die wahrscheinlich die weiteren Teile des Kulturzentrums der Tianjin Binhai New Area enthält. Wie ein exotischer Dominostein liegt das Exploratorium direkt angebaut an diesen Kasten. Dieser Masterplan für das Binhai Cultural Center wurde übrigens vom deutschen Büro Gerkan, Marg und Partner (GMP) entwickelt und ist das typische Beispiel eines europäischen Architekturexportes ohne Berücksichtigung jeglichen kulturellen Kontextes.
Binhai Science Museum
Tianjin, China
Bauherr: Tianjin Binhai Municipality
Planung: Bernard Tschumi Architects
Statik: Tianjin Urban Planning and Design Institute (TUPDI)
Bebaute Fläche: 6.900 m2
Nutzfläche: 33.000 m2
Planungsbeginn: 2013
Bauzeit: 2015 bis 2018
Fertigstellung: 2019
Fotos:©Kris Provoost
Text:©Peter Reischer
Kategorie: Projekte