Der Bildungsraum als Pädagoge

24. August 2022 Mehr

Gemäß dem italienischen Pädagogen Loris Malaguzzi prägt der Ort, an dem Bildung stattfindet, die Schüler. Aus dieser Aussage lässt sich schließen, dass die Architektur einen maßgeblichen Anteil an den Lernerfolgen der Auszubildenden hat – dies gilt vor allem, wenn es um die Gestaltung der Schulräume geht. Löst der Aufenthalt in einem Klassenraum Wohlbefinden aus, führt das unweigerlich zu einer verstärkten Identifikation mit der Bildungseinrichtung. Dabei stellt sich natürlich die Frage, welche Maßnahmen in der Architektur zu einem positiven Raumempfinden beitragen. Planer stehen letzten Endes vor der Herausforderung, mit ihren Konzepten nicht nur bei Schülern, sondern gleichermaßen bei Lehrenden für Wohlbefinden zu sorgen. In der Bauplanung kommt es indes nicht nur auf optische Schönheit, sondern vielmehr auf funktionelle Flexibilität an.

 


European School Copenhagen © Adam Mork

 

Der Umgang mit dem Raum

Aus pädagogischer, aber auch architektonischer Sicht ist es wichtig, Schülern ein Gefühl sowie ein Verständnis für den Raum zu vermitteln. Im Bildungskontext nimmt vor allem die Veränderbarkeit der bebauten Umwelt einen hohen Stellenwert ein. Die moderne Schule ist wandelbar und passt sich den Bedürfnissen der Lernenden an. Räume fungieren hier als Orte der Kreativität und der persönlichen Entfaltung.

Die festgeschriebene Verknüpfung von Funktion und Fläche gehört zunehmend der Vergangenheit an. Häufig setzen Bildungsinstitutionen heute auf teiloffene Cluster mit Sicht- und Geräuschzonierungen. Offenheit ist des Weiteren in Bezug auf das Schulgelände selbst gefragt. Als soziale Gemeinschaft grenzt sich die Schule mittlerweile nicht mehr von ihrer Nachbarschaft ab, sondern sucht gezielt nach Berührungspunkten. Und vor allem bei Jugendlichen gilt es, Lernfelder außerhalb von Schulgrenzen zu erschließen. So ist es den Schülern möglich, praktische Erfahrungen zu sammeln und sich im Alltag zu bewähren.

Es ist aber genauso wichtig, Menschen von außen als Experten in die Schule zu holen. Dies schafft eine Bildungseinrichtung unter anderem durch die räumliche Öffnung ihrer Bildungslandschaft und die Bereitstellung ihrer Ressourcen für den Stadtteil. Die wechselseitige Nutzung von zentralen Funktionsbereichen gewährleistet einen wechselseitigen Austausch der Auszubildenden mit der Umwelt. Idealerweise wird der Standort des Schulgebäudes so gewählt, dass sich außerschulische Lernorte wie Museen, Schwimmbäder und Theater unumständlich erreichen lassen.

Eine kreative Lösung zur effektiven Raumnutzung liefert die European School Copenhagen. Das Gebäude befindet sich mitten im Stadtraum der Metropole, wobei das gesamte Areal eine Größe von 33 Hektar aufweist. Die Schule setzt sich aus Neubauten, aber auch denkmalgeschützten Bestandsgebäuden einer ehemaligen Brauerei zusammen. Den verantwortlichen Architekturbüros Vilhelm Lauritzen Architects und Nord Architects gelang die organische Verbindung von Alt und Neu. Sowohl der Bestand als auch die Neubauten bestehen aus Backstein, wobei sich Letztere in puncto Form deutlich von der historischen Architektur unterscheiden. Das Dach der Sporthalle, aber auch Höfe und Grünfläche sind für die Schüler, aber auch für Menschen aus der Nachbarschaft frei begehbar. Herzstück des Schulgebäudes sind jedoch zwei große Treppenanlagen. Diese verbinden die Klassenräume über fünf Stockwerke miteinander, während sie Platz zum Erholen und Lernen zur Verfügung stellen. Auch viele Räume sind offenen und flexiblen Lernkonzepten angepasst.

 

 


European School Copenhagen © Ramblersen

 

Die Architektur braucht Kommunikation

Ausgewogene, umsetzbare Konzepte, die obendrein eine hohe Nutzungsqualität aufweisen, bedürfen eines partizipativen Planungsansatzes. Architektur darf heute nicht mehr abseits der Öffentlichkeit erfolgen – für Schulbauten gilt dies umso mehr.

Steht also der Um- oder Neubau einer Bildungseinrichtung an, müssen Architekten, Lehrer und Schüler gemeinsam die Erwartungshaltung in Bezug auf das Gebäude ergründen. Sinn ist hierbei, dass alle Beteiligten ihrer Fantasie möglichst freien Raum lassen, wobei sie sich nicht mit der Problematik des Bauens auseinandersetzen sollen. Auf diese Weise ist eine erfolgreiche Ideenfindung gewährleistet – die Lösung konstruktionsbezogener Herausforderungen fällt letzten Endes in das Aufgabengebiet der Architekten.

Auch ist es die Verantwortung der Planer, die fantastischen Ideen von Laien in den Entwurf eines Bauwerks und damit in dessen räumliche Strukturen zu übersetzen. Es ist gleichzeitig darauf zu achten, dass diese atmosphärischen Qualitäten bei der Umsetzung des Konzepts nicht verloren gehen.

Bei der Ideenfindung handelt es sich also um einen interaktiven Prozess. Um einen klaren, offenen Dialog zwischen Architekten und Nutzern zu gewährleisten, ist die Wahl des richtigen Kommunikationsmittels essenziell. Hierbei sind beispielsweise Planspiele, intensive Gespräche, Collagen und sogar Filmprojekte denkbar.

 


Brede Buurtschool © Luuk Kramer

 

Gebäude, die die Fantasie anregen

Für Schüler zählt nicht nur die Architektur selbst, sondern gleichermaßen die Geschichte, die hinter dem Bauwerk steht. Bildungseinrichtungen sind lebendig und im Hinblick auf ihre Einzigartigkeit zu gestalten. Alleinstellungsmerkmale einer Schule erhöhen die Identifikation der Nutzer mit dem Gebäude, wobei sie gleichzeitig die Fantasie der Kinder anregen.

Klar ist jedenfalls: der rein funktionelle Schulbau von gestern hat ausgedient. Heute findet zunehmend der Wandel von der belehrenden zur lernenden Schule statt. Auch soll bei den Bildungsbauten vermehrt der Fokus auf Inklusivität liegen. Diese strukturellen Veränderungen wirken sich auf die architektonische Gestaltung aus. Dies ist wenig verwunderlich – denn die klassischen Flurschulen mit den sogenannten „Schuhkartonklassen“ eignen sich für den modernen Unterricht nicht.

Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie die Alternative aussehen soll. Immerhin müssen die Schulen der Zukunft nicht nur an die aktuelle Situation angepasst sein, sondern sich gleichermaßen für morgen eignen. Generell gelten Bildungseinrichtungen heute dann als erfolgreich, wenn es mit ihnen gelingt, überholte pädagogische Fixierungen zu lösen.

 


Brede Buurtschool © Luuk Kramer

 

Ein Positivbeispiel für integrative Schularchitektur ist die Brede Buurtschool. Mit seinem klassisch-dezenten Aussehen täuscht das Gebäude über die innovative Innenraumgestaltung hinweg. Die Schule in Den Haag, die gemäß den Plänen des Architekturbüros atelier PRO realisiert wurde, befindet sich in einem roten Backsteinbau mit schlichten Fenstern. Dabei besitzt die Bildungseinrichtung nicht nur Unterrichtsräume, sondern sie bietet gleichermaßen Platz für die öffentliche Nutzung – mittlerweile hat sich die Einrichtung bereits zu einem wichtigen Treffpunkt für die Nachbarschaft entwickelt. Schülern stehen im Inneren offene Lernzonen sowie private Bereiche zur Verfügung

 


Bildungszentrum „Tor zur Welt “ © Minderbinder

 

Steigende Anforderungen meistern

Architekten, die sich der Planung eines Schulgebäudes widmen, müssen sich heute also großen Herausforderungen stellen. Nicht nur die Zahl der Schüler, sondern auch die Anforderungen an den Bildungsbau steigen. Durch moderne gestalterische Ansätze und eine inklusive Raumgestaltung punktet das Bildungszentrum „Tor zur Welt“ von Bof Architekten. Auf einer Fläche von 22.000 m2 wurden Neubauten mit einem Bauvolumen von 99.000 m3 realisiert. Dabei achteten die Planer darauf, dass die Gebäude allesamt dem Passiv­haus-Standard entsprechen. Die Westseite des Projekts schließt an ein baulich unvollständiges Bahnhofsareal an. Bewusst implementierten die Architekten mithilfe des Schulbaus hier einen räumlichen Abschluss. Die Gebäude des Bildungszentrums orientieren sich zueinander hin, wobei gleichzeitig großzügige Abstände gewährleistet sind. Diese Konzeption ermöglicht die Entstehung intimer Freiflächen. Herz des Projekts ist zweifelsohne die Mehrzweckhalle. Sie steht den Einwohnern von Wilhelmsburg als Aus- und Weiterbildungseinrichtung zur Verfügung.

 


Simone Veil‘s Group of Schools © Eugeni PONS

 

Die Simon Veil’s Group of Schools im Pariser Vorort Colombes setzt hingegen auf einprägsame Elemente. Mit seiner leuchtend roten Farbe sticht das viergeschossige Schulgebäude aus der eher grauen Umgebung hervor und wertet diese auf. In den Innenräumen setzt sich die farbenfrohe Gestaltung fort – Dachgärten und Treppenhäusern verleiht die Farbkombination aus Orange und Pink ein lebhaftes Aussehen. Der Entwurf von Dominique Coulon & Associés wirkt aber nicht nur auf Kinder anziehend – auch die Nachbarschaft hat den Bau wohlwollend angenommen. Kennzeichnend für das Gebäude ist dessen kompakte Struktur, die sich durch Höfe und Dachterrassen obendrein in unterschiedliche Zonen untergliedert. Die vielfältig gestalteten Räume dienen einerseits dem Unterricht und andererseits als Treffpunkt für die Nachbarschaft. Die öffentlich zugänglichen Bereiche – darunter ein Café, ein Fitnessstudio und Bewegungsflächen – sind in den Erdgeschosszonen und die Schulklassen in den oberen Etagen vorzufinden.

 


Simone Veil‘s Group of Schools © Eugeni PONS

 

Die Schule der Zukunft orientiert sich also nicht mehr an starren Konzepten, sondern sie strebt Offenheit und Vielseitigkeit an. Dies schlägt sich auch in der Architektur nieder. Immer mehr Planer entwerfen Bildungsgebäude als integrativen Bestandteil des Stadtraumes, wobei eine Interaktion mit der umliegenden Bebauung das Ziel ist.  Auch stehen heute das Wohlbefinden der Schüler und deren Identifizierung mit dem Gebäude im Vordergrund. Das Ergebnis sind vielseitige, einzigartige Bauten, die Kreativität und Lernwillen fördern.

 

 

 

Text: Dolores Stuttner

 

Kategorie: Architekturszene, Kolumnen