Atlantis an allen Orten
Was passiert, wenn der Meeresspiegel steigt? Der Klimawandel hat uns fest im Griff. Ein Anstieg der Temperaturen auf der Erde ist nicht mehr abzuwenden. Infolgedessen werden Polkappen und Gletscher schmelzen und den Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um geschätzte 1,5 Meter ansteigen lassen. Das bedeutet, dass eine Vielzahl unserer Metropolen über kurz oder lang im Meer versinken wird. Zeit zum Handeln!
Seitdem Platon im 4. Jahrhundert von dem Untergang des mythischen Inselreiches Atlantis erzählt hat, übt die sagenhafte Geschichte eine enorme Faszination auf Künstler, Filmemacher, Entdecker und Historiker aus. Bis heute herrscht Uneinigkeit darüber, ob der Inselstaat tatsächlich existierte. Laut dem antiken griechischen Philosophen soll Atlantis um 9600 v. Chr. infolge einer Naturkatastrophe binnen 24 Stunden für immer unauffindbar im Meer versunken sein. Ob wahr oder nicht – für die Zukunft zeichnen sich am Horizont ähnliche Szenarien für viele unserer Metropolen ab.
Auch wenn einige Unverbesserliche den Klimawandel mit all seinen Folgen bis heute vehement als Verschwörungstheorie oder Schwarzmalerei abtun – die Folgen unseres hemmungslosen Raubbaus an der Natur sind bereits mess- und sichtbar. Aufgrund des rapide steigenden Ausstoßes von Kohlendioxid und Treibhausgasen hat sich die Temperatur auf der Erde im vergangenen Jahrhundert um ein halbes Grad erhöht. Infolgedessen wiederum ist der Meeresspiegel durch das Abschmelzen unserer Gletscher und Polkappen um ganze 20 Zentimeter gestiegen. Laut Szenarien von Climate Central könnte der Meeresspiegel bis zum Ende des jetzigen Jahrhunderts um 1,5 Meter ansteigen. Würden alle Gletscher und Polarkappen abschmelzen – was laut Berechnungen des U.S. Geological Survey in einigen Tausend oder Hunderttausend Jahren der Fall sein wird – stiege der Meeresspiegel um ganze 66 Meter an. Dann hieße es tatsächlich: Atlantis an allen Orten – Berlin, Venedig, London, New York, Bangladesch – allesamt versunken unter Wasser.
Für eine Ausstellung in London skizzierten die Künstler Robert Graves und Didier Madoc-Jones mittels Fotomontagen die Auswirkungen des Klimawandels im Jahr 2100: London ist dann das neue Venedig. Bis auf den Buckingham Palace sind die Häuser weitestgehend zerstört und die Menschen hausen in Slum-ähnlichen Baracken. Die Schranken der Thames Barrier werden als Wasserkraftwerke genutzt und in Westminster wird Reis angebaut. Was die Künstler auf die Spitze getrieben und zum Teil überspitzt dargestellt haben, kann in Zukunft bittere Realität werden. Bereits heute werden rund um den Globus immer wieder kleine Inselgruppen vom steigenden Meerwasser verschlungen. Und auch in der Vergangenheit führten Naturkatastrophen zum Untergang von Landmassen oder Siedlungen. Im Jahre 1362 beispielsweise versank die friesische Stadt Rungholt mit ihren 1.500 Einwohnern nach einer schweren Sturmflut in der Nordsee.
Schon jetzt sehen sich Menschen auf Inseln oder in Küstengebieten zunehmend gezwungen, ihr Zuhause aufgrund der steigenden Wassermassen zu verlassen. Wenn sich die Erde in den kommenden Jahrzehnten um nur 4 weitere Grad erwärmen sollte, stünden bis zu einer halben Milliarde Menschen weltweit vor dem gleichen Problem. Wer heute an einer Fluss- oder Meeresküste lebt, muss in Zukunft mit gehäuft auftretenden Überschwemmungen und Unwettern rechnen. In Japan wären 10 Prozent der Bevölkerung betroffen, in Vietnam 26 Prozent und den Niederlanden sogar fast jeder zweite Bewohner. Am schlimmsten träfe es ohnehin Asien, allen voran China mit seiner immensen Bevölkerungszahl und der Vielzahl an Millionenstädten in Küstennähe. Die „gute“ Nachricht: Ein solcher Anstieg des Meeresspiegels verläuft sehr langsam (derzeit 3 bis 4 Millimeter pro Jahr) und passiert, anders als in der Erzählung von Atlantis, nicht von heute auf morgen. Es besteht also die Möglichkeit, sich den verändernden Umgebungsbedingungen anzupassen und auf die Entwicklungen zu reagieren.
Die betroffenen Regionen und Städte haben daher bereits zum jetzigen Zeitpunkt grundlegende Vorkehrungen getroffen, um die Bevölkerung, die Bauwerke, das Land, die Infrastruktur oder das Trinkwasser zu schützen. Aus technischer Sicht wurden und werden Dämme, Wasserpumpen oder Überlaufbecken gebaut. Die ökologischen Maßnahmen umfassen die Renaturierung von Land, Mangroven und Feuchtgebieten, die bei Überflutungen und Hochwasser ausgleichend wirken sollen. Eine weitere Strategie liegt in smarten, städtebaulichen Konzepten sowie einer baulichen Aufrüstung der Gebäude, um deren Widerstandskraft gegenüber auftretenden Naturkatastrophen zu stärken. Vorreiter auf diesem Gebiet: die Niederlanden. Ein 3.700 km
langes Netzwerk von Deichen, Dämmen und Mauern schützt die Küstenlinie. Am eindrucksvollsten präsentiert sich das Maeslant-Sperrwerk. Mit seiner Höhe von 22 Metern schützt das Bollwerk die Stadt Rotterdam, die zu 90% unter dem Meeresspiegel liegt.
Auch in New Orleans investierten die Behörden nach Hurricane Katrina im Jahr 2005 in das teuerste Hochwasserschutzsystem weltweit: Neben einer Reihe von massiven Dammbarrieren, verstärkten Dämmen und Hochwasserwänden setzt man in der US-amerikanischen Stadt allen voran auf ein lebendiges Wassersystem aus Parks, Feuchtgebieten und anderen Vorrichtungen, um die Abhängigkeit von Pumpen und Kanälen zu verringern.
Trotz all dieser Ansätze müssen die Planer und Gestalter von morgen über innovative und zukunftstaugliche Stadtkonzepte nachdenken. Denn Fakt ist: Die Menschheit wächst unaufhörlich weiter an, wohingegen die verfügbaren Landflächen weiter schrumpfen werden. Schon heute platzen die Städte zunehmend aus allen Nähten und Wohnraum wird zum knappen und teuren Gut, da immer mehr Menschen die ländlichen Regionen verlassen (müssen). Singapur (auf Platz 3 der am dichtest besiedelten Länder der Erde) reagiert auf den Klimawandel und dem damit einhergehenden steigenden Meeresspiegel mit einem Verzicht, neue Bauflächen zu erschließen. Stattdessen blickt man hier nach unten. In den nächsten 15 Jahren soll eine Art Untergrund-Stadt unter dem jetzigen Siedlungsgebiet entstehen. Doch vorerst sollen sich nicht die Bewohner selbst unter Tage begeben, vielmehr werden die unterirdisch platzierten Lager-, Versorgungs-, Transport- und Industrieanlagen Freiraum für neue Wohn- und Nutzflächen über der Erde schaffen. Die Umsetzung allerdings stellt die Planer vor ungeheure technische Herausforderungen. Die ansässige Bauaufsichtsbehörde entwickelt zu diesem Zweck momentan mithilfe von Laserscanning ein geologisches 3D-Modell, um den unterirdischen Raum zu kartieren. Auch die Steuerung der Luftqualität und die Gewährleistung des Brandschutzes stellen enorme Herausforderungen dar. Bis also irgendwann auch Menschen unter der Erde leben werden, wird wohl noch einige Zeit verstreichen.
Einen ganz anderen Ansatz verfolgt das in Hong Kong ansässige Unternehmen Oceanix. Wenn das Wasser schon immer mehr wird, warum die neu entstehenden Flächen nicht als Siedlungsraum nutzen? Seit über einem Jahrzehnt forscht Marc Collins Chen bereits mit seinen Kollegen an einer Stadt auf dem Wasser. Gemeinsam mit den Architekten der Bjarke Ingels Group (BIG) sowie dem Zentrum für Meerestechnik am MIT (Massachusetts Institute of Technology) wird im Moment an der Entwicklung eines Konzeptes für eine Stadt mit 10.000 Einwohnern gefeilt. Jeweils 300 Menschen finden auf einer der schwimmenden, modularen Plattformen mit einer Fläche von rund zwei Hektar Platz. Diese „Nachbarschaften“ sollen im Laufe der Zeit organisch wachsen, sich verändern und adaptieren. Aneinander gekoppelt werden die einzelnen Plattformen dann zur Stadt. Ähnlich einer bereits heute angewendeten Verankerungsmethode für künstliche Riffe, werden die Plattformen auf Stahlrahmen gesetzt, durch die ein elektrischer Niederspannungsstrom geleitet wird. Dadurch sammeln sich Ionen auf der Stahloberfläche, die diese mit einer felsartigen Substanz überziehen, die so fest wie Beton ist.
Die einzelnen Nachbarschaftsmodule sollen an Land kostengünstig vorfabriziert und anschließend ringförmig um einen großen, geschützten Hafen auf hoher See angeordnet werden. Die innen liegenden Stadtteile umfassen jeweils einen öffentlichen Platz sowie Zentren für Religion, Bildung, Gesundheit, Sport und Kultur. Dabei ist kein Gebäude höher als sieben Stockwerke, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Im Sinne der Nachhaltigkeit strebt man ein energieautarkes System an. Zur Stromerzeugung werden erneuerbare Energiequellen wie Wasser und Sonne genutzt. Das gesamte Abwasser wird vor Ort gesammelt, geklärt und wiederverwendet. Urban farming wird zum sea farming: Die Bewohner der schwimmenden Stadt können auf dafür vorgesehenen Flächen ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen. Die Fortbewegung auf der Insel erfolgt zu Fuß, per Rad oder Boot. Die Umsetzung eines Prototypen ist für die kommenden Jahre fest eingeplant, nur der passende Standort muss noch gefunden werden.
Renderings: BIG Bjarne Ingels Group
In eine ähnliche Richtung geht das Ozean-Hochhaus AEQUOREA von Vincent Callebaut Architectures. Die Studie befasst sich mit einem, vor der Küste Brasiliens, im Meer schwimmenden Hochhaus – teils über, teils unter Wasser, 500 Meter breit, 1.000 Meter tief und 250 Stockwerke hoch mit Platz für bis zu 10.000 Wohneinheiten und öffentliche Einrichtungen. Ein Viertel des Volumens ist für die Permakultur und Agrarökologie vorgesehen. Der Entwurf ist von der Meeresbiologie inspiriert: Die „Aequorea“ ist eine biolumineszierende, Licht-emittierende Qualle mit gegliederten, vernetzten Tentakeln, welche für die Stabilität im Wasser sorgen und gleichzeitig Energie produzieren. Äußerst innovativ ist auch das Baumaterial des schwimmenden Giganten: Die einzelnen Bauteile sollen mittels 3D-Druck aus „Algoplast” entstehen. Das Material setzt sich aus Algen und dem im Meer schwimmenden Plastikmüll zusammen. Die Kosten für den Bau würden sich laut der Planer auf
€ 1.950/m2 belaufen. Eine fantastische Zukunftsvision, die vielleicht einmal Realität sein wird.
Abseits dieser zum Teil utopischen Zukunftsvisionen haben sich die Menschen das Meer in Stücken bereits erobert. Ob vorgeschichtliche Pfahlbauten, künstlich aufgeschüttete Inseln oder Hotels und Restaurants unter Wasser – die Zukunftsvisionen sind stückweise schon heute Realität. Doch was im jetzigen Stand eher temporär der Erholung und Freizeit dient, muss in Zukunft Alltagstauglichkeit beweisen. Dann wird es vermutlich weit mehr als nur ein Atlantis geben. Im Gegensatz zum antiken Vorbild werden unsere versunkenen Städte hoffentlich nach wie vor leben und den Aufbruch in eine neue Zeit markieren.
Renderings: Vincent Callebaut Architectures
Kategorie: Kolumnen, Sonderthema