Brutalismus und Moderne – Antwerpen
Topsportschool Antwerpen / Antwerpen / Compagnie O architecten
Ein kristalliner Körper schwebt über einem, aus mehrfach geneigten Stahlbetonwänden zusammengesetzten, unregelmäßigen Bunker. Die Umgebung des Fort VI Wilrijk in Belgien, einem Teil der Verteidigungsanlagen aus dem Weltkrieg rund um Antwerpen verstärkt den unwirklichen und auch unwirtlichen Eindruck der Architektur. Sie soll ja auch nicht freundlich und anheimelnd wirken, denn es ist eine Elite-Sportschule, die hier vom Architekturbüro Compagnie O architecten errichtet wurde.
Die Topsportschool (TSS) ist eine akribische, räumliche Übersetzung eines Funktionsprogrammes. Der Tagesablauf der Elitestudenten und ihrer Trainer ist hier rigoros geplant und bestimmt. Wie Schachfiguren bewegen sie sich mit spartanischer Effizienz von einer Station zur nächsten. Die Wegstrecken zwischen Schule und Training sind minimal, gerade und eindeutig. Es gilt, keine Zeit oder Raum zu verlieren und die Architektur leitet diese Bewegungen zielstrebig und schnell. Der Bau ist ein gutes Beispiel dafür, wie Infrastrukturen, räumliche Zusammenhänge, Funktionen und Bewegungsabläufe in Materie „gegossen“ sein können.
Das Bauwerk verrät seinen Inhalt und seine Funktion von außen nicht an den Betrachter. Es „existiert“ einfach an dieser Stelle neben der aufgelassenen Befestigungsanlage und wird langsam von Grün überwachsen. Die Betonoberflächen sind von den Architekten mit Algen, Moos und Flechten besiedelt worden, um einen Renaturalisierungsprozess in Gang zu setzen. Diese grüne Patinierung verursacht eine ständige Metamorphose im Erscheinungsbild der Architektur.
Eine Elite-Sportschule in unmittelbarer Nähe einer ehemaligen militärischen Befestigungsanlage haben die Compagnie O architecten in der Nähe von Antwerpen errichtet. Ihre Erscheinung lebt von den Gegensätzen zwischen Beton und Transparenz und ist das Resultat einer genauen Übersetzung von Funktionsprogrammen in der Architektur.
Drei Ebenen
Der dreigeschossige Körper besitzt einen fast quadratischen Grundriss, dessen Wahrnehmung aber durch die geneigten Betonaußenflächen verwischt wird. Auf der Erdgeschossebene stellen die Sporthallen das Herz des Gebäudes dar. Auf der einen, größeren Hälfte liegen nebeneinander drei große Hallen für verschiedene Ballsportarten. Auf der kleineren Hälfte befinden sich Säle für Martial Art & Judo und Taekwondo. Getrennt werden die Bereiche durch eine Zone mit Umkleidekabinen, Duschen und WCs. Hier sollen sich die Einzelpersonen auf ihre individuellen Fähigkeiten konzentrieren und deshalb sind die Räume auch eher schlicht gehalten. Alle Außeneinflüsse werden abgeschirmt, kontrolliert oder gefiltert und gedämpft. Teile der Außenwände sind leicht schräg geneigt und ansonsten gibt es keinerlei Störung. Auf dieser Ebene befindet sich, gegen den Vorplatz orientiert, auch der Haupteingang zur Schule.
Auf der Zwischenebene, direkt neben dem Restaurationsbereich, sind die Einrichtungen für das Krafttraining situiert. Diese Räume stellen den eigentlichen Gemeinschaftsbereich der Schule dar. Als Kontrast zu den eher introvertierten Trainingshallen im Untergeschoss bietet sich hier ein generöser Ausblick in die Natur der Umgebung. Auf dieser Ebene befindet sich auch ein zweiter, eher privater Eingang in den Schulbereich. In diesen beiden unteren Ebenen findet man immer wieder überraschende Durchblicke und Perspektiven.
Die oberste Ebene sitzt als scharfkantiger Körper auf der soliden Basis aus Beton. Sie ist für alle anderen Schulaktivitäten, wie Unterricht, Verwaltung und Freizeit reserviert. Im Zentrum des Geschosses findet sich ein großer, zum Himmel halb offener Bereich für Kommunikation und Pausen, eine Art Schulhof. Er wird teilweise von einer dreieckigen Dachplatte geschützt und Träger und Stützen ihrer Konstruktion sind in einer dekonstruktivistischen Anordnung platziert, die allerdings der Logik der Statik aus den unteren Geschossen mit deren großen Tragweiten bei den Sporthallen folgt. Diese Zone erhebt sich wörtlich und auch bildlich über die Sporthallen und die Umgebung. Nichts Massives mehr, nur Transparenz, Glas und Stützen auf einer Plattform positioniert.
Eine coole, streckenweise elegante Gestaltung prägt das Innere der Schule. Die Ausführungen sind präzise und gut aufeinander abgestimmt.
Materialisation
Die Außenwände der unteren zwei Geschosse sind geneigt und referieren an den militärischen Kontext (nicht nur der Umgebung) einer strikten Disziplin. Durch die sehr grob geschalten Sichtbetonflächen, die einen bunkerähnlichen Charakter erzeugen, bekommt die Architektur eine eigene Identität. Die Schrägen der Wände reagieren auch auf die Topografie des Geländes und beziehen dieses mit ein.
Die Fassade des obersten Geschosses ist rundum mit reflektierenden Materialien ausgeführt. Durch die Kombination verschiedener Glasflächen wird die Reflexion variiert. Es gibt Teile, die komplett spiegeln und Zonen, die eine Einsicht in das Innere ermöglichen. Die Spiegelung der Umwelt ist nicht absolut, sondern geschichtet und fragmentiert, sie wird manipuliert und die Natur so zu einem virtuellen Bild der Architektur. Der augenscheinliche Kontrast zwischen der Massivität des Sockels und der Leichtigkeit des obersten Geschosses ist paradox, fast ein Oxymoron1. Es kommen zwei – scheinbar inkompatible – Sprachen zusammen, aber genau diese Spannung macht die Architektur interessant.
Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander widersprechenden oder sich gegenseitig ausschließenden Begriffen gebildet wird.
Topsportschool Antwerpen – Stedelijk Leonardo Lyceum
Fort VI Wilrijk, Antwerp
Bauherr: AG Vespa, Antwerpen
Planung: Compagnie O architecten / Joke Vermeulen & Francis Catteeuw
Statik: Util, Brüssel
Grundstücksfläche: 11 Hektar
Bebaute Fläche: 3.120 m2
Nutzfläche: 6.285 m2 + 540 m2 Hof
Planungsbeginn: 06/2011
Bauzeit: 32 Monate
Fertigstellung: 09/2016
Baukosten: 9.020.200 Euro
EG
OG
Fotos: ©Tim Van de Velde
Text: ©Peter Reischer
Kategorie: Projekte