Harry Glück
architektur sprach mit Architekt Harry Glück, einem Pionier des sozialen Wohnbaus in Wien. Trotz seiner 86 Jahre hat er nichts von seiner Überzeugungskraft und Ideologie verloren. Noch immer geht er täglich ins Büro, begleitet von seiner Hündin Kathy. Er schuf wegweisende und die Architektenschaft gleichermaßen wie die Gesellschaft polarisierende Bauten, wie die Wohntürme von Alt Erlaa, den Nittelhof und Wohnanlagen in Favoriten, Meidling, Ottakring und Liesing. Das Interview führte Peter Reischer.
Was hat Sie veranlasst, Ihre sozialen Wohnbauten mit so positiven Attributen und Gestaltungsmerkmalen zu versehen?
Im Jahr 1896 hat der Zirkusdirektor und Schausteller Hagenbeck beim König von Preußen um ein Patent angesucht – Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu zeigen. Dieses Prinzip hat sich inzwischen in allen Tiergärten der Welt durchgesetzt. Nicht im gleichen Maß für den Menschen.
Dabei ist das „natürliche Umfeld des Menschen“ leicht zu erkennen. Wir suchen denn Kontakt zur Natur, wir suchen alle die Wassernähe, die Möglichkeit kommunikativer Lebensformen. Und wir strafen mit Einzelhaft.
Das, was wir in der Architektur getan haben, war eigentlich nur, die Veranlagungen und Bedürfnisse, die uns die Evolution in Tausenden Jahren eingeprägt hat, umzusetzen. Auch der Kontakt mit anderen Menschen ist offenbar ein uns eingeprägter Impuls.
Ist dieses Bedürfnis nach Wasser, Natur, Grünraum, Kommunikation etwas „archetypisches“ im Menschen?
Unsere Entstehungsgeschichte hat uns in einer ganz bestimmten Richtung geprägt, die mit unserer Menschwerdung zusammenhängt. Es sind grundlegende Bedürfnisse. Es war aber immer nur eine „dünne“ Schicht von Menschen, die sich – durch Besitz oder Macht privilegiert – eine Umwelt, die ihren Wünschen entsprach, schaffen konnte. Wir können nicht jedem Menschen eine Wohnform, wie sie die Familie Rockefeller auf Long Island für sich geschaffen hat, geben. Doch wir können vieles von diesen Kriterien allen zugänglich machen, wenn sie wollen, im „Neckermann-Format“. Das geht, heute ist es für so gut wie jeden möglich, in die Karibik zu reisen. All die Dinge, die sich früher nur die Reichen leisten konnten, sind heute für fast jeden zugänglich. Es kann nicht jeder ein Jagdschloss besitzen, aber jeder kann den psychischen Appell, wie es die Verhaltensforschung nennt, der Natur wahrnehmen. Die Immobilienmakler lassen sich den „Grünblick“ bezahlen. Wir haben versucht, all dies – wenn auch im Neckermann-Format – der großen Zahl der Menschen, die in der Demokratie zur herrschenden Klasse geworden sind, zu verschaffen.
In einem Ende September erschienenen Artikel der Süddeutschen Zeitung wird Alt Erlaa als ein „in Europa einzigartiger Entwurf, der die klassischen Wohnhierarchien aufhebt und auch Schlechterverdienenden ermöglicht, was sonst den Wohlhabenden vorbehalten ist“ beschrieben.
Durch statistische und demografische Untersuchungen ist belegt, dass die Zufriedenheit der Nutzer Ihrer Bauten signifikant höher ist, als die fast aller anderen sozialen Wohnbauten. Wieso hat sich Ihr Prinzip nicht durchgesetzt?
Viele Architekten sehen sich als Formkünstler und nicht als Dienstleister. Im Jahr 1817 wurde in Paris die École des Beaux-Arts gegründet. Diese Schule hat Architektur als einen Akt der Selbstverwirklichung definiert. Dies könnte man akzeptieren wenn jeder Architekt ein Genie wäre. Genies sind statistisch ein geringer Prozentsatz. Davon abgesehen, bin ich von den Konservativen angegriffen worden, dass ich ‚mit öffentlichen Geldern den Proleten Schwimmbäder baue’. Und von links, dass – wenn ich es der unterprivilegierten Schicht auch so gemütlich mache – diese dadurch den ‚revolutionären Impetus’ verliert.
Bauen die Architekten also heute nur noch um (mit den Worten von Konrad Paul Liessmann zu sprechen) einen „Schein“, etwas „Erscheinendes“ zu erzeugen?
Die Architekten halten formale Auffälligkeit für die Hauptqualität der Architektur. Nun ist Auffälligkeit auch eine Funktion, aber sie hat nichts mit dem Menschen zu tun, sondern mit dem Versuch, durch das Bauwerk dominant zu wirken.
War das jemals anders?
Es gab eine einzige – allerdings nur 10 Jahre dauernde – Phase, der Gemeindebau der Ersten Republik. Dessen Zielsetzung stammt allerdings nicht von Architekten, sondern von Politikern, die eine „Neue Welt“ für die aufstrebende Arbeiterklasse schaffen wollten. Formal war diese Architektur wenig bedeutend. Sie ist in einer Zeit entstanden, in der es das Bauhaus schon gegeben hat.
Formal ist seit der „Weissenhofsiedlung“, die von Mies van der Rohe und führenden Vertretern des „Neuen Bauens“ errichtet wurde, nichts Neues mehr passiert. In der Weissenhofsiedlung, im Barcelona-Pavillon war die Moderne vollzogen.
Hat die Architektur dieser 1920er-Jahre des Wiener Wohnbaus auch Ihre Arbeit beeinflusst?
Ja, wir haben das Gleiche gesucht.
Warum sind diese Ideen in Wien nicht aufgegriffen worden und zu einer erweiterten Umsetzung gelangt?
1929 fand auf Schloss Sarganz/Schweiz eine Tagung der CIAM (International Congresses of Modern Architecture) statt. Dort wurde dem Generalsekretär Siegfried Gideon aufgetragen, die „Arbeiterwohnung“ für das Existenzminimum zu definieren. Das heißt, man ist davon ausgegangen, dass die Unterschicht zwar mehr, aber doch nur einen Minimumstandard bekommen sollte.
Auch die „Frankfurter Küche“ war ja nicht eine Idealküche, sondern der Versuch zu zeigen, wie man die als unzulänglich erkannten Mängel erträglich machen kann.
War die Zeit nicht reif dafür?
Ich merke auch heute noch nicht, dass Architekten und Politiker verstanden haben, dass es tatsächlich um eine „Neue Welt“ für die Menschen geht. Die heutigen Politiker sehen sich überwiegend als Agenten einer Oberklasse mit einem Horizont von vier Jahren.
Was sagen Sie zu den Versuchen der Behübschung der Wohnbauten durch „soziale“ Attribute?
Architekten sehen es beinahe als Schande an, nicht Formkünstler, sondern Sozialingenieure zu sein. Sie sollten aber lernen, dem Menschen zuzugestehen, dass die Programmierung, die uns die Evolution gegeben hat, akzeptiert werden sollte. Diese komplexe Aufgabe wurde zu selten und nur punktuell erkannt und umgesetzt. Wenn heute jemand versucht an einen Wohnbau ein Schwimmbecken „anzukleben“, dann ist das meistens ein Alibi: Man kann nicht für 300 Wohnungen ein 12-Meter-Becken anbieten.
Wenn Sie heute den heutigen Architekten einen Rat geben könnten – was würden Sie sagen?
Sie sollen lieber Jus studieren.
Warum?
Weil die Welt von Juristen verwaltet wird.
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