Vom Gedanken der Gemeinschaft – Jacarandà

16. Juli 2019 Mehr

Jacarandà / Mailand / Labics

Ringsum ragen die Mailänder Wohnbauten anonym in den Himmel. Dazwischen, fast schwebend, leuchtet hell und transparent ein anmutiger Baukörper. Was von dem Industrieobjekt aus den 1950er Jahren geblieben ist, ist die solide Stahlbetonkonstruktion mit den anmutigen Bögen, die ein halbrundes Dach ausbilden. Viel Glas, Grün und kräftige Farbakzente haben das bis vor kurzem verlassene Gebäude in einen fröhlichen Ort der Begegnung verwandelt. Für das Architektenteam des Studio Labics bot die ehemalige Parkgarage die perfekten Voraussetzungen für ihr Konzept eines Kindergartens und offenen Nachbarschaftszentrums.

 

Labics-Jacaranda-PH-RC_0104-photo-by-Marco-Cappelletti-and-Delfino-Sisto-Legnani

Dass eine verlassene Parkgarage aus den 50er Jahren den perfekten Rahmen für ein ambitioniertes Kindergartenprojekt bieten kann, hat das Team von Labics unlängst mit dem Projekt Jacarandà bewiesen. Viel Tageslicht, offene Raumstrukturen und ein feinfühliges pädagogisches Konzept sorgen für ein echtes Gemeinschaftserlebnis und jede Menge Interaktion und Kommunikation zwischen Groß und Klein.

 

Das Ziel der Architekten und der Forschungsinstitution für Kindererziehung „Reggio Children“ war von Beginn an klar, einen Raum von hoher pädagogischer Qualität zu schaffen. Die Idee der Gemeinschaft, des Teilens und der Teilnahme korrespondieren dabei bestens mit den bestehenden, lichtdurchfluteten und offenen Strukturen der Industriearchitektur. Symbolisches Herz ist ein überhöht ausgebildetes Atrium, das als Knotenpunkt aller horizontalen wie vertikalen Erschließungswege und Blickbezüge fungiert. Agora getauft, unterstreichen die Architekten in Anlehnung an den zentralen Fest- und Versammlungsplatz im antiken Griechenland, wortgewandt die Intention ihrer Raumgestaltung.

Mit viel Fingerspitzengefühl ist es den Architekten gelungen, den Kindern und Erziehern nicht nur eine Hülle zum Spielen und Lernen zur Verfügung zu stellen, sondern vielmehr eine lose Struktur mit öffentlichen und geschützten Bereichen, die Begegnungen fördern, aber auch fordern. Neugier und Interaktion sollen bewusst provoziert werden. Es geht dabei um die Kommunikation und den Austausch unter den Kindern selbst wie auch mit den Erziehern. Das Projekt basiert auf der Überzeugung, dass Raum sowohl materiell als auch entmaterialisiert, beispielsweise in Form von zwischenmenschlichen Beziehungen, aufgespannt und wahrgenommen werden kann. Die Kinder im Alter von sechs Monaten bis sechs Jahren lernen somit von klein auf die Bedeutung und die positiven Aspekte einer funktionierenden Gemeinschaft und Gesellschaft kennen.

Gemeinschaft bedeutet Schutz und Sicherheit. Die gebogene und runde Formensprache, die sich konsequent von der Konstruktion über die baulichen Details bis hin zu den Einbauten und Möbeln zieht, vermittelt ein Gefühl der Geborgenheit und des Urvertrauens. Die höhlenartige Dachkonstruktion wirkt dabei nicht schwer und erdrückend, sondern transparent und leicht, bietet Schutz, lässt aber gleichzeitig Freiraum zum Wachsen und Lernen. Diese kleine Gemeinschaft stellt sozusagen einen Mikrokosmos inmitten der sie umgebenden Stadtstruktur dar. Dabei geht es nicht um Abgrenzung, sondern – ganz im Gegenteil – um Offenheit, Transparenz und den Austausch mit der Umgebung. Um Teilen und Teilhabe für alle. Labics symbolisieren dies durch den nahezu verschwenderisch anmutenden Einsatz von Glasflächen, die das Licht und die Natur von außen nach innen holen, gleichzeitig aber auch eine Kommunikation mit der Nachbarschaft ermöglichen.
Die Materialien wie Kunstharzböden, verputzte Wände, großflächige Aluminiumfenster und die offene Stahlkonstruktion sprechen eine ehrliche und zurückhaltende Sprache. Im Gegensatz dazu stehen die in Zusammenarbeit mit Play+ entworfenen farbenfrohen Möbel, die zum Benutzen und Angreifen animieren. Dazwischen finden sich immer wieder Grünpflanzen, welche die Regale und Böden bevölkern oder sogar in die Tischmöbel integriert sind.

 

Labics-Jacaranda-PH-RC_2193-photo-by-Marco-Cappelletti-and-Delfino-Sisto-Legnani

Der industrielle Charakter der ehemaligen Werkstatt und Garage im Untergeschoss wurde beim Umbau zu einem Schwimmbad erhalten. Über einen separaten Zugang sind die Pools unabhängig vom Kindergarten für jedermann zugänglich.

 

Während sich in der Erdgeschossebene die Ateliers und Begegnungszonen befinden, wurden die Gruppenräume sozusagen eine Etage höher verlegt. Um das Gefühl der Weitläufigkeit und der Auflösung räumlicher Grenzen zu bewahren, haben die Architekten eine weitere Ebene in Form von drei Hängebrücken mittels Zugankern in den Raster der Stahlbogenkonstruktion der Kuppel eingefügt. Vollflächige Glasfenster ermöglichen eine optimale Belichtung sowie vielfältige Blickbeziehungen. Von den oberen Räumen gelangen die Kinder direkt auf eine Dachterrasse, die auf über 600 Quadratmetern einen natürlichen Outdoor-Spielplatz mit mobilen Möbeln, ein kleines Theater sowie einen pädagogischen Garten für die kleinen Entdecker bereithält.

An zwei Stellen strecken sich wie aus dem Nichts die grünen Zweige eines Baumes verwegen durch Löcher in der Bodenplatte der Sonne entgegen. Jacarandà heißt dieser argentinische Laubbaum, Namensgeber für das Projekt, dessen Initiatoren aus dem südamerikanischen Land stammen.
Die Wurzeln dieser beiden Bäume lassen sich treffenderweise im Fundament, also dem Untergeschoss des Bauwerks finden, wo neben dem Kindergarten in nur 17 Monaten Bau- und Planungszeit ein öffentliches Schwimmbad eingeplant wurde. Wo früher Autos parkten, befinden sich heute drei Becken, die separat zugänglich sind. Dieses kann auch von den Kindern verwendet werden und bietet somit einen weiteren Kontaktpunkt zur Nachbarschaft.

Jacarandà symbolisiert dabei nicht nur die physische Verbindung der verschiedenen Raumstrukturen und Lebenswelten, der Baum selbst steht mit seinen prächtigen Blüten für das Leben und die Entwicklung. So langsam aber stetig, wie diese Baumart wächst, so sollen auch die Kinder sich in ihrem Tempo mit viel Selbstvertrauen entfalten, nach den Sternen greifen dürfen und dabei mit beiden Beinen fest und sicher auf dem Boden stehen.

Mit diesem Projekt ist es dem Architektenteam von Labics gelungen, mitten im Herzen Mailands einen Ort der Transzendenz zu schaffen. Luftig, leicht, lichtdurchflutet. Einen Ort zum Spielen, Staunen und Entdecken, an dem sich Natur und Stadt verschränken, innen und außen beinahe nahtlos ineinander übergehen, öffentliche und private Bereiche zu Treffpunkten der Kommunikation und Interaktion verschmelzen. Ein Ort der sozialen Gemeinschaft.

 

Jacarandà
Mailand, Italien

Bauherr: Scuola Innovativa Srl
Planung: Studio Labics, Maria Claudia Clemente, Francesco Isidori
Projektleitung: Sara Sosio
Statik: Studio Speri

Grundstücksfläche: 2.000 m2
Planungsbeginn: 05/2017
Bauzeit: 10/2017 – 09/2018
Fertigstellung: 09/2018

 

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Fotos:©Marco Cappelletti, Delfino Sisto Legnani

Text:©Linda Pezzei

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Kategorie: Projekte