Die Fassade als Energielieferant

20. April 2020 Mehr

Die Fassade der Zukunft kann weitaus mehr, als bloße Hülle eines Bauwerks sein. Entwickler arbeiten bereits heute an Systemen zur effizienten Energiegewinnung mittels Mikroalgen oder Sonneneinstrahlung. Dabei soll die Fassade von morgen natürlich trotzdem weiterhin auch funktionalen wie ästhetischen Ansprüchen gerecht werden. Eine spannende Aufgabe für Visionäre und Gestalter.

 


© xoio GmbH im Auftrag von Timo Schmidt

 

Die Vernetzung unterschiedlicher Funktionen und Wirkungsebenen wird in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen. Ressourcen, Geld und Flächen werden immer knapper, innovative Ansätze über den Tellerrand hinaus gewinnen an Bedeutung. Auch der Architektur steht ein solcher Wandel bevor – beziehungsweise steckt diese schon längst mittendrin in der Neuerfindung ihrer selbst. Dächer werden bereits heute begrünt oder für das Urban Gardening und Bienenzucht nutzbar gemacht, Baulücken oder Brachen werden durch sinnvolle Gemeinschaftsprojekte reaktiviert und auch in der Vertikalen finden visionäre Entwickler eine bunte Spielwiese für Innovationen.

So soll die Fassade von morgen nicht mehr allein ästhetischen Ansprüchen genügen, das Bauwerk schützen, Wind und Wetter abhalten, temperieren und Ausblicke bieten – die Fassade der Zukunft ist ein echter Tausendsassa und produziert ganz nebenbei noch grüne Energie. Forscher und Entwickler tüfteln seit einiger Zeit und oft interdisziplinär an solchen Konzepten. Universitäten, Labore und Hersteller arbeiten in diesem Zusammenhang meist eng zusammen und profitieren dabei vom gegenseitigen Know-how. Ob Sonnenenergie oder Mikroorganismen – die Bandbreite der Lösungsansätze ist so vielseitig wie spannend.

 

Strom aus Sonnenenergie
Dass aus Sonneneinstrahlung Energie gewonnen werden kann, mag erst einmal nicht sehr innovativ klingen – schließlich sind Fotovoltaik und Solaranlagen seit etlichen Jahren auf den Dächern unserer Häuser angekommen. Neuartig hingegen ist die von ETH-Forschern entwickelte Solarfassade, die mittels beweglicher Paneele Strom produziert. Im Gegensatz zu statischen Solarfassaden kann nicht nur die Beschattung nach Bedarf individuell geregelt werden, das neue System kann (an einem klaren Sonnentag) auch rund 50 Prozent mehr Energie als die starre Konkurrenz bereitstellen.

 

 

Dr. Arno Schlüter, Professor für Architektur und Gebäudesysteme an der ETH Zürich, forscht mit seinem interdisziplinären Team seit rund zehn Jahren mit dem Schwerpunkt auf nachhaltigen Gebäudesystemen, neuen anpassungsfähigen Komponenten und deren synergetischen Integration in die architektonische und stadtplanerische Gestaltung unter Verwendung von daten-​ und computerbasierten Ansätzen für Modellierung, Analyse, Steuerung und Regelung. Neuester Clou: Die Entwicklung einer Solarfassade mit beweglichen Solarpaneelen.

Laut einer in der Zeitschrift “Nature Energy” erschienenen Studie steht am Jahresende dank der energetischen Regulierung von Räumen mittels des neuen Fassadensystems ein Plus vor der Energiebilanz. Möglich macht dies das “Gedächtnis” der Fassade: ein lernfähiger Algorithmus. Dieser steuert unter Berücksichtigung der jeweiligen Nutzung der hinter der Fassade liegenden Räume die Bewegungen der Paneele dahingehend, dass der Energiebedarf für Heizung und Kühlung entsprechend minimiert werden kann.

 

 

Technisch sind die Solarpaneele soweit ausgereift, dass diese Wind und Wetter problemlos standhalten. Die einzelnen Elemente sitzen nebeneinander in einer Reihe auf dezenten Stahlseilen und können jeweils einzeln angesteuert und horizontal wie vertikal justiert werden. Die Bewegung erfolgt mittels eines festen U-Gelenks und eines weichen pneumatischen Elements, das unter Druck seine Form verändern kann.

Am besten funktioniere das System in den gemäßigten Regionen Mitteleuropas, wobei wärmere Regionen gegenüber kälteren generell im Vorteil sind. Auch bringt eine Bürohausfassade wohl tendenziell bessere Ergebnisse als ein Wohnbau. Laut der veröffentlichten Studie lieferte das Testobjekt eines Büroraums in Zürich 115 Prozent der für die Klimatisierung des Raumes nötigen Energie. Abgesehen von solchen Studien und virtuellen Berechnungen wird diese adaptive Fassade in Zukunft wohl Daten in Echtzeit und Realnutzung liefern können, denn sie befindet sich bereits im Bau.

 

Der Bioreaktor in der Glasfassade
Algen assoziieren die meisten Menschen gemeinhin eher im Negativkontext (Stichwort Eutrophierung) oder wenn schon innovativ, dann mit dem letzten Besuch beim experimentellen Asiaten nebenan. Doch Algen können noch viel mehr, als unser Ökosystem steuern oder kulinarische Genussmomente bereiten – Algen können auch industriell zu unserem Wohle genutzt werden. Die Nachfrage nach bioaktiven Substanzen für die Lebensmittel-, Futtermittel-, Kosmetik- und Pharmazie- Industrie wächst stetig an. Während diese Substanzen heute mittels Biotechnologie und Bakterien unter hohem Flächenbedarf produziert werden, schlagen die Forscher der HS Augsburg neue Wege ein.

 

 

Unter der Leitung von Dr. Timo Schmidt, Professor an der Fakultät für Architektur und Bauwesen der Hochschule Augsburg, konnten fassadenintegrierte Fotobioreaktoren zur Kultivierung von Mikroalgen entwickelt werden, deren Einsatz auch den Verbrauch von Ackerfläche mindern soll. Der im Rahmen eines vom BMBF geförderten Verbundforschungsvorhabens an der Hochschule Augsburg aufgebaute 1:1 Prototyp funktioniert als aerosolbasierter (Nebel) Reaktor. State of the art waren bis dato aquatische  (Wasser) Fotobioreaktoren, die mehr Gewicht aufweisen und ein Ansiedeln von terrestrischen Algen nicht ermöglichen. Der aerosolbasierte Fotobioreaktor erweitert somit das Produktspektrum und ermöglicht im Vergleich zu aquatischen Systemen einen energieeffizienteren Betrieb.

Innovativ denken und dabei Ressourcen schonen, lautet die Devise. Da Algen nur Sonnenlicht und das in der Luft enthaltene CO2 für ihr Wachstum benötigen, bieten sich vertikale “Anbauflächen” an Fassaden bestens an. Bodenalgen sind deren optimale Bewohner, da sie im Vergleich zur Wasseralge weitaus höhere Temperaturen (bis zu 100 Grad Celsius) unbeschadet überstehen können. Wenn die Kultur also in einem geschlossenen, kontrollierbaren Bioreaktor gehalten werden kann, der fähig ist, Synergismen mit dem Gebäude/Quartier (CO2, Abwärme, Verschattung, Wasseraufbereitung) zu bilden, dann eignet sich eine entsprechende Fassadenintegration. Produktionsanlagen mit hoher Abwärme und hohem CO2-Ausstoß seien laut Prof. Dr. Schmidt potenzielle Zielobjekte. Im Allgemeinen seien die Fassaden aber in Klimaregionen mit weitgehend konstanter Temperatur gut einsetzbar.

 

 

Dank ihres hohen Eiweiß-, Vitamin- und Mineralgehalts sind Algen prädestiniert für die Produktion von Nahrungsergänzungsmitteln sowie für die pharmazeutische Nutzung. Während die konventionelle vertikale Landwirtschaft mit erheblichem Aufwand verbunden ist, fungieren die Algen auf einfache und günstige Weise als hochwertiger Dünger für die Nahrungsmittelproduktion. Die Algen können genauso wie ein Apfel oder eine Tomate am Ende ihres Reifeprozesses geerntet und weiterverarbeitet werden. Großer Pluspunkt: Licht und CO2 als “Futtermittel” der Algen kosten nichts, nur der Reaktor muss mitsamt Medium einmalig angeschafft werden.

Bislang gibt es zu diesem Thema zwar eine Vielzahl an Forschungsprojekten, aber wenig konkret in der Realität erprobte Beispiele. Man mag also auf innovative Bauherren und mutige Architekten hoffen, die die Kooperation mit Wirtschaft und Forschung nicht scheuen und in Folge neben der Funktion auch die Ästhetik an unsere Fassaden der Zukunft bringen. Prof. Dr. Schmidt jedenfalls sieht in der unterschiedlichen Bewuchsdichte der transluzenten Elemente das Potenzial einer spannenden, dynamischen Innenraumbeleuchtung – obgleich auch er zugeben muss, dass die Fassadensysteme bei den heutigen niedrigen Energiepreisen derzeit finanziell nicht konkurrenzfähig sind. Aber das kann sich in Zukunft ja schnell ändern …

 

 

Text: Linda Pezzei
Fotos & Grafiken: HS Augsburg

 

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Kategorie: Kolumnen, Sonderthema